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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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über CFC weiß. Es wird nicht sehr breit erforscht wie etwa Autismus. Die meisten Eltern von CFC -Kindern wissen mehr über diesen Defekt als ihre Kinderärzte. Die CFC -Gemeinde ist nicht so groß und politisch einflussreich wie die Down Syndrom-Gemeinde, mit dem in Nordamerika mehr als 350 000 Menschen leben, und das statistisch bei einer von 800 Geburten auftritt. CFC kommt statistisch nicht häufiger als bei einer von 300 000 Geburten vor und möglicherweise so selten wie einmal in einer Million. Die Abteilung des National Institute of Health für Seltene Krankheiten stuft CFC als »extrem selten« ein, ganz am äußersten, schmalen Ende der statistischen Skala, zusammen mit bizarren genetischen Anomalien wie dem Chediak-Higashi-Syndrom, einer Anomalie im Blutbild, die von einer Dysfunktion der Thrombozyten und der weißen Blutkörperchen ausgelöst wird. Es gab nur zweihundert bekannte Fälle von Chediak-Higashi, was zum Teil darauf zurückzuführen ist, dass die wenigsten, die damit geboren werden, überleben.
    Walker aufzuziehen ist, als würde man ein Fragezeichen aufziehen. Schon oft wollte ich jemandem die Geschichte erzählen, wie sich dieses Abenteuer anfühlte, wie es roch und klang, was mir auffiel, wenn ich nicht in der Dunkelheit herumrannte. Aber wer würde mit einer solchen menschlichen Abnormalität etwas anfangen können, mit dieser seltenen und exotischen Nische der Existenz, in der wir uns plötzlich wiederfanden? Elf Jahre sollten vergehen, bevor ich noch so jemanden wie ihn kennen lernte.

Zwei
    SCHON FRÜH ERKANNTE ich, dass mein Sohn meine Laune bessern konnte, dass ich auf seine ungewöhnliche, emotionale Ausstrahlung reagierte. Viele Tage folgen, auch heute noch, einem ganz bestimmten Muster:
    Ich komme müde von der Arbeit nach Hause (möglicherweise weil er mich die Nacht davor wach gehalten hat), im Zweifelsfall sogar völlig erschlagen: Von dem, was ich mir für den Tag vorgenommen hatte, habe ich nur ein Bruchteil geschafft. Die Dämmerung setzt ein. Walker spielt mit Olga, seinem Kindermädchen von Geburt an. Ihr Nachname lautet de Vera, aber für uns ist sie einfach bloß Olga. Wenn sie nicht schon von ihren dreistündigen Spaziergängen mit ihm zurückgekehrt ist (er liebt es, rauszugehen) und ihn gebadet hat, dann tue ich das. Ich habe es jeden zweiten Tag gemacht, als er noch die ganze Zeit bei uns lebte. Ihn zu baden, führt mich wieder zu mir selbst zurück.
    Ich lasse das Wasser ein, hole ihn unten von Olga (er folgt ihr beharrlich von der Küche zur Waschküche im Keller wieder zurück in die Küche, wobei er zwischendurch auf eigene Faust Erkundungstouren des Wohnzimmers, des Esszimmers, des Klaviers, der Diele und der Treppe unseres engen Stadthauses unternimmt – lange Zeit, bis zu seinem sechsten Lebensjahr, war die Treppe sein Lieblingsaufenthaltsort). Eifrig befreie ich ihn von seiner Kleidung (die Knöpfe, die Reißverschlüsse, das geometrische Problem, seine steifen Arme aus seinen Ärmeln zu kriegen, darauf zu achten, dass er auf den Füßen bleibt, ihn davon abzuhalten, dass er sich auf den Boden fallen lässt, während ich ihm kopfunter die Schuhe ausziehe und dabei wünsche, wir hätten das Modell mit den Klettverschlüssen statt das mit den Schnürsenkeln gekauft), entsorge seine Windel und mache ihn sauber, wenn nötig. Fertig. Ich hebe ihn in die Badewanne, passe auf wie ein Schießhund, dass er nicht untertaucht, während ich mich blitzschnell ausziehe und zu ihm ins Wasser hüpfe.
    Dann: Wir lehnen uns in der Wanne zurück, die weiche Haut seines nackten Rückens schmiegt sich an meine Brust. Er ist ruhig wie ein Teich. Seine Brustwarzen sind winzig, haben buchstäblich die Größe von Nieten. Sie machen mich nervös, ich weiß nicht warum. (Ich kann nur spekulieren.) Seine Schulterblätter und die Knochen an seinem Rücken sind seltsam weich, plastikähnlich, biegsam, als wären sie von einer wundersamen Polsterung bedeckt. Die Haut an seinen Armen und Beinen fühlt sich auch beinahe künstlich an, zu viel Schwefelmetall und zu wenig Fluss, die Zellen wüten, laufen aus dem Ruder, eines der direkteren Resultate der genetischen Fehlschläge, die ihn so haben werden lassen.
    Sein Körper verändert sich so langsam, dass ich oft vergesse, wie sehr er sich schon verändert hat . Je älter er wird, desto auffallender sind seine Deformationen – man hatte uns vorgewarnt, als er noch ein Baby war. Jetzt hat er einen kleinen Kugelbauch, den er früher nie hatte.
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