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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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Walker einschlief, konsumierte sie jede erreichbare Zeitung im Hause am Küchentisch. Sie war exakt genau so alt wie ich. Alle paar Monate buchten sie und vierzig philippinische Freundinnen eine Busreise und fuhren für fünf Tage nach Orlando, Las Vegas, Chicago, New York oder Atlantic City und wieder zurück. Danach war vielleicht sogar so jemand wie Walker eine Art Urlaub.
    Der Plastikbeutel voller Getränkedosen-Laschen, den Walker beackert, enthält nur noch Metallbrei: Er zupft an ihm herum, packt ihn und macht ihn platt, bearbeitet ihn ununterbrochen mit seinen T-Bone-Steak-Händen, als wäre der Beutel der Rosenkranz eines Roboters, als wäre er ein Ding, das die Zukunft erträglich machen kann. Wie etwas aus Blade Runner . Ich weiß nicht, warum er das macht, was es für ihn bedeutet. Ich muss mich stattdessen mit dem zufriedengeben, was ich als Einziges ganz sicher weiß, nämlich dass er diesen Plastikbeutel sehr gern in die Hand nimmt. Das ist einer dieser außergewöhnlichen Aspekte, wenn man einen Jungen wie Walker hat: Er hat sein eigenes Leben, seine eigene geheime Welt, immer schon. Das verleiht ihm etwas Ernstes, Erwachsenes, selbst schon als Junge. Er hat etwas zu erledigen, er muss Dinge zusammen quetschen und an ihnen herumkneten.
    Sind es die scharfen Kanten der Laschen unter der weichen Plastikhaut des Beutels – zwei gleichwertige und doch konträre Empfindungen zur gleichen Zeit? Vielleicht ist ein Plastikbeutel voller Getränkedosen-Laschen Walkers Version der sogenannten »negativen Befähigung«, die objektive Entsprechung zu John Keats’ Ideal, dass man gleichwertige und sich widersprechende Vorstellungen gleichzeitig im Kopf haben kann, ohne sie aufzulösen, ohne dass man einen Nervenzusammenbruch bekommt, ohne dass man sich für eine von beiden entscheiden muss. Ein Idee, die auf etwas Physisches reduziert worden ist. Oder vielleicht gehe ich auch zu weit. Aber er lässt mir keine Wahl, als so weit zu gehen. Er und ich erfinden unsere gemeinsame Welt in jedem Moment, in dem ich mit ihm zusammen bin, wieder neu. Wie geht es dir, Walkie? Was machst du gerade? Ah, du haust gerade auf den Plastikbeutel mit den Getränkedosen-Laschen und versuchst auf diese Art, etwas Musik zu machen. Ist es das?
    Es gibt Schlimmeres, womit man seine Zeit verbringen kann.
    Alles an ihm erscheint mir zwingend, es sei denn, es erschreckt mich, und manchmal erlebe ich beides. Heute liefern wir uns, bevor wir Stufe für Stufe nach unten tapsen, die Hand am Geländer – er setzt immer seinen linken Fuß als Erstes – in seinem Zimmer eine Kissenschlacht. Sie dauert zwanzig Minuten, länger als sein Enthusiasmus je zuvor angehalten hat, soweit ich weiß. Ich entdecke zum ersten Mal in zehn Jahren, dass er es liebt, wenn man ihn mit einem Kissen erwischt. Erstaunen – wie konnte ich das übersehen? – Freude, ein Anflug von Langeweile, wenn es zu lange so weitergeht, aber (vor allem) Glück, weil er glücklich ist. Bevor das Chloralhydrat in seinen Kreislauf sickerte, während er immer noch neben seinem Bett stand und in die Windel zu kacken versuchte (seine morgendliche Pflicht, direkt nach dem Aufstehen, Krawumms!), und auf seinem ungerührten Gesicht diesen Stuhlgang-Ausdruck hatte (und dafür hat er einen ganz bestimmten Gesichtsausdruck), war er launisch und wütend, schabte mit seinen Fingern an der Stelle mit dem Nahrungsschlauch herum, als wäre es ein Bergbaustollen. Er riss sich nicht die Haut auf, sondern scheuerte sie sich nur kaputt, auf der Skala von Walker Selbstbestrafungswerten eher harmlos. Die Haut war weiß, wund gerieben. Ich stellte mir vor, dass das weh tat, obwohl er nicht sehr viel Schmerz zu spüren scheint, noch so ein Zeichen für sein Syndrom. Auf jeden Fall liebe ich es, mit ihm zusammen die Treppe hinunter zu gehen. Es fühlt sich an, als mache er Fortschritte. Ich hasse sein Zimmer, diese vergessene Höhle im dritten Stock. Ich hasse den himmelblauen Teppichboden, der von Wand zu Wand reicht, und die Barbar-Poster (die sich nie verändern, so wie er) und den kindlichen, hölzernen, selbst gebastelten Gürtelhalter, der ständig auseinanderfällt (er hatte noch nie einen Gürtel, der ihm gepasst hätte, der klein genug für seine winzige Taille über den langgliedrigen Beinen gewesen wäre). Die vielen Kommoden (zusammengewürfelt, aus Rattan neben irgendwelchen von Ikea), die voller Kleidung sind, die wir einfach nicht wegschmeißen können – wir bringen es nicht übers Herz
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