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Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)

Titel: Der Junge im Mond: Wie mein Sohn mir half, die Welt zu verstehen (German Edition)
Autoren: Ian Brown
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Leben angerichtet hat, indem er unsere Ehe, unsere finanziellen Verhältnisse und unsere Gesundheit aufs Spiel gesetzt hat – sehne ich mich doch nach diesem Moment, in dem er, seinen verrückten, formlosen Körper an mich geschmiegt, einschläft. Für einen kurzen Augenblick fühle ich mich wie der Vater eines ganz normalen kleinen Jungen. Manchmal denke ich, das ist sein Geschenk an mich – in kleinen Portionen, um mir zu zeigen, wie wertvoll und kostbar es ist. Walker, mein Lehrer, mein lieber, lieber, verlorener und verwundeter Junge.
    In den Anfangsjahren, nachdem bei Walker im Alter von sieben Monaten erstmals das CFC -Syndrom diagnostiziert wurde, hat sich die Zahl der Menschen, die vermutlich an diesem Syndrom leiden, jedes Mal, wenn wir den Arzt aufsuchten, erhöht. Die medizinische Wissenschaft – zumindest die Handvoll Mediziner, die sich mit dem Cardio-Facialen-Cutanen-Syndrom beschäftigten oder wussten, was es war – lernte mehr über das Syndrom, während wir es gleichzeitig auch taten. Der Name selbst war nichts als ein Amalgam der auffälligsten Symptome des Syndroms: Cardio wegen der allgegenwärtigen Herzgeräusche, der Missbildungen und Vergrößerungen des Herzens; Facial wegen der Gesichtsanomalie, die das erste Zeichen war, eine hohe Stirn und die weit auseinander stehenden Augen, Cutan wegen der vielen Hautstörungen und Hautveränderungen. Als mir ein Genetiker das erste Mal dieses Syndrom erläuterte, sagte er mir, dass es auf der ganzen Welt nur noch acht andere Kinder mit CFC gäbe. Acht: Das war nicht möglich. Ganz sicher hatte man uns in eine andere, unbekannte Galaxie geschossen.
    Aber ein Jahr war noch nicht vergangen, da hatten unsere Ärzte die vorhandene medizinische Fachliteratur nach Hinweisen auf CFC durchforstet und informierten mich, dass es zwanzig Fälle gäbe, denn in Italien waren mehrere aufgetaucht. Dann waren es vierzig. (Angesichts der Geschwindigkeit, mit der sich diese Zahl veränderte, empfand ich einen gewissen Hohn den Ärzten gegenüber: Sie waren die medizinischen Profis, sie mussten doch einfach mehr wissen als wir selbst.) Seit 1979, als man anhand von drei Fällen zum ersten Mal öffentlich dieses Syndrom beschrieben hat, sind mehr als hundert Fälle von CFC bekannt geworden, manche Schätzungen sprechen von bis zu 300 Fällen. Alles an diesem Syndrom war ein Rätsel, eine Unbekannte. Erst 1986 bekam es überhaupt einen Namen. Die Symptome variierten stark, was den Grad und die Ausprägung anbelangte. (Manche Forscher glauben, dass es Tausende von Menschen mit CFC gibt, aber dass die Symptomatik in diesen Fällen so harmlos ist, dass man sie gar nicht bemerkt.) Manche CFC -Kinder schlagen sich selbst, die meisten allerdings nicht. Manche können sprechen oder Zeichensprache benutzen. Bis auf ganz wenige sind sie leicht bis schwer geistig behindert. Herzfehler rangieren von schwerwiegend bis unerheblich. (Walker hatte leichte Herzgeräusche.) Ihre Haut ist oft sehr empfindlich, bis zu dem Punkt, dass eine Berührung sie schmerzt. Wie viele Kinder mit CFC konnte Walker nur mühsam kauen oder schlucken, er konnte nicht sprechen, er konnte nicht gut sehen oder hören (er hatte verengte Sehnerven, bei einem Sehnerv stärker als bei dem anderen, und winzige Hörkanäle, die permanent entzündet waren), er war dünn und wabbelig, in der medizinischen Fachsprache nennt man das »hypoton«.
    Wie praktisch alle CFC -Kinder hatte er keine Augenbrauen, spärliches, lockiges Haar, eine hohe Stirn, weit auseinander liegende Augen, Ohren, die tiefer am Kopf saßen als üblich, und die oft charmante Persönlichkeit eines Party-Tigers. Die CFC -Merkmale wurden offensichtlicher, »abnormaler«, je älter er wurde. Ich nahm an, mein kleiner Junge sei ein typisches Beispiel für diesen Defekt. Es stellte sich heraus, dass ich mich geirrt hatte. Es stellte sich heraus, dass nichts typisch war – nicht bei diesem Syndrom.
    Und dieser Defekt veränderte sich auch nicht. Heute, mit dreizehn Jahren, ist er, was seine geistige Entwicklung anbelangt, irgendwo – und es erschreckt mich, diese Worte auch nur aufzuschreiben – zwischen einem und drei Jahren alt. Körperlich geht es ihm besser als vielen CFC -Kindern (er hatte keine häufigen Krampfanfälle, seine Gedärme sind nicht vereitert), geistig weniger. Er könnte ein mittleres Alter erreichen. Wäre das ein Glück oder nicht?
    Das war und ist, bis auf ein paar neue genetische Details, alles, was man bislang in der Medizin
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