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Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Autoren: John Boyne
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sah immer noch aus dem Fenster, und jetzt betrachtete sie nicht die Blumen, den Gehweg oder die Bank mit dem Schild, auch nicht den hohen Zaun, die hölzernen Telegraphenmasten oder die Stacheldrahtrollen, den harten Boden dahinter, die Baracken, die kleinen Gebäude oder die Schornsteine; sie betrachtete die Menschen.
    »Wer sind nur die vielen Leute?«, fragte sie leise, als meinte sie gar nicht Bruno, sondern erwartete von jemand anderem eine Antwort. »Und was machen sie alle dort?«
    Bruno stand auf, und zum ersten Mal standen sie zusammen da, Schulter an Schulter, und starrten auf die Szene, die sich ihnen keine fünfzehn Meter von ihrem neuen Haus entfernt bot.
    Wohin sie auch blickten, entdeckten sie Menschen – große, kleine, alte, junge, und alle liefen umher. Einige standen in Gruppen da, ihre Arme hingen herab, und sie bemühten sich, den Kopf gerade zu halten, während ein Soldat vor ihnen entlangmarschierte und den Mund aufriss und schloss, als würde er sie anbrüllen. Andere bildeten eine Art Sträflingskolonne und schoben Schubkarren von einer Seite des Lagers zur anderen; sie tauchten von einem nicht sichtbaren Ort auf und bugsierten ihre Schubkarren ein Stück weiter hinter eine Baracke, wo sie wieder verschwanden. Einige standen in kleinen stummen Gruppen bei den Baracken und starrten auf den Boden, als handle es sich um ein Spiel, bei dem sie nicht entdeckt werden wollten. Manche gingen an Krücken, und viele hatten einen Verband um den Kopf. Wieder andere trugen Spaten und wurden von Soldaten zu einer Stelle geführt, wo man sie nicht mehr sehen konnte.
    Bruno und Gretel sahen Aberhunderte Menschen, doch da standen so viele Baracken, und das Lager erstreckte sich noch viel weiter, als ihr Blick reichte, dass vermutlich noch Tausende dort draußen waren.
    »Und alle leben so nah bei uns«, sagte Gretel stirnrunzelnd. »In Berlin standen nur sechs Häuser an unserer schönen ruhigen Straße. Und hier sind es so viele. Warum nimmt Vater eine Arbeit an so einem hässlichen Ort an und mit so vielen Nachbarn? Das ergibt keinen Sinn.«
    »Sieh mal, da drüben«, sagte Bruno, und Gretel folgte der Richtung, in die sein Finger zeigte. Sie sah, wie eine dicht zusammengedrängte Gruppe von Kindern in einiger Entfernung aus einer Baracke trat und von mehreren Soldaten angebrüllt wurde. Je lauter sie angebrüllt wurden, umso dichter drängten sie sich aneinander, aber dann stürmte ein Soldat auf sie zu, und sie trennten sich und taten offenbar das, was er die ganze Zeit von ihnen gewollt hatte, nämlich sich in einer Reihe aufstellen. Kaum standen sie da, fingen die Soldaten zu lachen an und klatschten ihnen Beifall.
    »Vermutlich üben sie irgendwas«, überlegte Gretel laut und ignorierte die Tatsache, dass einige der Kinder offenbar weinten, darunter auch einige der älteren, die so groß waren wie sie.
    »Ich hatte dir gesagt, hier sind Kinder«, sagte Bruno.
    »Aber nicht die Art von Kindern, mit denen ich spielen möchte«, sagte Gretel entschieden. »Sie sehen schmutzig aus. Hilda, Isobel und Louise baden jeden Morgen, genau wie ich. Diese Kinder sehen aus, als hätten sie in ihrem Leben noch kein Badezimmer gesehen.«
    »Dort drüben sieht es wirklich sehr dreckig aus«, sagte Bruno. »Vielleicht gibt es ja keine Badezimmer?«
    »Sei nicht dumm«, sagte Gretel, obwohl ihr wiederholt gesagt worden war, dass sie ihren Bruder nicht dumm nennen sollte. »Was sind das für Leute, die kein Bad haben!«
    »Weiß ich nicht«, sagte Bruno. »Leute, bei denen es kein heißes Wasser gibt?«
    Gretel sah noch eine Weile aus dem Fenster, dann drehte sie sich schaudernd ab. »Ich gehe wieder in mein Zimmer und stelle meine Puppen auf«, sagte sie. »Von dort ist die Aussicht bedeutend schöner.«
    Mit dieser Bemerkung entfernte sie sich über den Flur in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich, aber ihre Puppen stellte sie nicht sofort auf. Vielmehr setzte sie sich aufs Bett und dachte über viele Dinge nach.
    Ein letzter Gedanke schoss ihrem Bruder durch den Kopf, als er die vielen Menschen beobachtete, die in der Ferne ihrer Arbeit nachgingen, und zwar, dass alle – die kleinen Jungen, die großen Jungen, die Väter, die Großväter, die Onkel und die Leute, die es überall gab und die allein wohnten, weil sie keine Verwandten hatten – sie alle trugen die gleiche Kleidung: einen grau gestreiften Pyjama und auf dem Kopf eine grau gestreifte Kappe.
    »Komisch«, murmelte Bruno und wandte sich dann
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