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Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Autoren: John Boyne
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war, und sie auch noch mit sabbernden Küssen ergänzten. »Mein Sohn«, fügte er gleich darauf hinzu.
    »Hallo, Vater«, sagte Bruno zaghaft, leicht eingeschüchtert von dem prachtvollen Raum.
    »Bruno, in ein paar Minuten wollte ich zu dir hochkommen, das ist wirklich wahr«, sagte Vater. »Ich musste nur eben ein Treffen zu Ende bringen und einen Brief schreiben. Ihr seid also gut angekommen?«
    »Ja, Vater.«
    »Hast du deiner Mutter und deiner Schwester geholfen, das Haus leer zu räumen?«
    »Ja, Vater.«
    »Dann bin ich stolz auf dich«, sagte Vater anerkennend. »Setz dich, mein Sohn.«
    Er wies auf einen breiten Sessel seinem Schreibtisch gegenüber, und Bruno kletterte hinauf, seine Füße reichten nicht ganz zum Boden, während Vater an seinen Platz hinterm Schreibtisch zurückkehrte und ihn musterte. Eine Weile sagten sie nichts, bis Vater schließlich das Schweigen brach.
    »Und?«, fragte er. »Was denkst du?«
    »Was ich denke?«, fragte Bruno. »Was soll ich wovon denken?«
    »Von deinem neuen Zuhause. Gefällt es dir?«
    »Nein«, sagte Bruno schnell, weil er immer ehrlich sein wollte und wusste, wenn er auch nur eine Sekunde zögerte, würde er sich nicht mehr trauen, offen seine Meinung zu sagen. »Ich finde, wir sollten nach Hause gehen«, setzte er mutig hinzu.
    Vaters Lächeln schwand nur unmerklich. Er sah kurz auf seinen Brief hinunter, bevor er wieder aufblickte, so als wollte er sich seine Antwort gut überlegen. »Nun, wir sind zu Hause, Bruno«, sagte er schließlich leise. »Aus-Wisch ist unser neues Zuhause.«
    »Aber wann können wir wieder nach Berlin zurück?«, fragte Bruno, dem bei Vaters Worten ganz schwer ums Herz wurde. »Dort ist es viel schöner.«
    »Jetzt mach mal halblang«, sagte Vater, der davon nichts wissen wollte. »Damit fangen wir gar nicht erst an«, sagte er. »Ein Zuhause ist kein Gebäude oder eine Straße oder eine Stadt oder etwas Künstliches aus Backsteinen und Mörtel. Ein Zuhause ist da, wo man seine Familie hat, nicht wahr?«
    »Ja, aber ...«
    »Und unsere Familie ist hier, Bruno. In Aus-Wisch. Ergo , muss das unser Zuhause sein.«
    Bruno wusste nicht, was ergo bedeutete, doch das war auch nicht nötig, denn er hatte schon eine kluge Antwort für Vater. »Aber Großvater und Großmutter sind in Berlin«, sagte er. »Sie gehören auch zu unserer Familie. Also kann das nicht unser Zuhause sein.«
    Vater überdachte Brunos Einwand und nickte. Er ließ sich lange Zeit mit einer Antwort. »Ja, Bruno, sie sind in Berlin. Aber in unserer Familie sind du und ich und Mutter und Gretel die wichtigsten Personen. Und wir leben jetzt hier. In Aus-Wisch. Jetzt mach nicht so ein unglückliches Gesicht!« (Bruno sah nämlich höchst unglücklich aus.) »Du hast es noch gar nicht versucht. Vielleicht gefällt es dir hier.«
    »Mir gefällt es hier nicht«, beharrte Bruno.
    »Bruno ...«, sagte Vater müde.
    »Karl ist nicht da und Daniel ist nicht da und Martin auch nicht. Außerdem sind keine anderen Häuser in der Nähe, keine Obst- und Gemüsestände, keine Straßen und Cafés mit Tischen draußen, und keine Leute, die einen am Samstagnachmittag von Pontius zu Pilatus schieben.«
    »Bruno, im Leben müssen wir manchmal Dinge tun, die wir uns nicht aussuchen können«, sagte Vater, und Bruno merkte, er wurde der Unterhaltung jetzt langsam überdrüssig. »Und ich fürchte, der Umzug hierher ist eins davon. Das ist meine Arbeit, wichtige Arbeit. Wichtig für unser Land. Wichtig für den Furor. Eines Tages wirst du das verstehen.«
    »Ich will nach Hause«, sagte Bruno. Er spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen, und wünschte sich sehnlichst, Vater würde einsehen, wie hässlich es hier in Aus-Wisch war, und zugeben, dass es an der Zeit war zu gehen.
    »Du musst begreifen, dass du zu Hause bist «, sagte er stattdessen, was Bruno enttäuschte. »Für die absehbare Zukunft ist dies dein Zuhause.«
    Bruno schloss kurz die Augen. Bisher war es nicht oft vorgekommen, dass er seinen Willen so hartnäckig durchsetzen wollte, und bestimmt hatte er sich noch nie so vehement an Vater gewandt und versucht ihn umzustimmen. Aber die Vorstellung, hierzubleiben, die Vorstellung, an einem derart scheußlichen Ort zu leben, wo es niemanden zum Spielen gab, war ihm einfach unerträglich. Als er die Augen kurz darauf wieder öffnete, kam Vater hinter dem Schreibtisch vor und setzte sich neben ihn in einen Sessel. Bruno sah zu, wie er ein silbernes Etui öffnete, eine Zigarette
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