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Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)

Titel: Der Junge im gestreiften Pyjama (German Edition)
Autoren: John Boyne
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von oben betrachtete, empfand er zugleich Angst und Ehrfurcht vor ihm. Die anderen Männer gefielen ihm weniger. Sie sahen auf jeden Fall nicht so gut aus wie Vater. Auch waren ihre Uniformen nicht so frisch gebügelt. Und ihre Stimmen waren nicht so laut, ihre Stiefel glänzten nicht so sehr. Alle hielten ihre Mütze unterm Arm und schienen um Vaters Aufmerksamkeit zu buhlen. Bruno konnte nur ein paar Gesprächsfetzen verstehen.
    »... hat vom ersten Moment, seit er hier war, nur Fehler gemacht. Am Ende blieb dem Furor nichts anderes übrig, als ihn zu ...«, sagte einer.
    »... Disziplin!«, sagte ein anderer. »Und Effizienz. Seit Anfang zweiundvierzig hat es uns an Effizienz gemangelt, und ohne sie ...«
    »... kein Zweifel, die Zahlen sprechen Bände. Kein Zweifel, Kommandant ...«, sagte der Dritte.
    »... wir sollten noch eine bauen«, sagte der Letzte. »Stellen Sie sich vor, was wir dann leisten könnten ... allein die Vorstellung!«
    Vater hob eine Hand hoch, was die anderen Männer sofort verstummen ließ. Er sah aus wie der Dirigent eines kleinen Männerchors.
    »Meine Herren«, sagte er, und jetzt konnte Bruno jedes Wort hören, denn es gab niemanden, der es besser verstand als Vater, sich in einem Raum Gehör zu verschaffen. »Ich danke Ihnen sehr für Ihre Vorschläge und Ihre Hilfe. Aber Vergangenheit ist Vergangenheit. Jetzt folgt ein Neubeginn, und damit fangen wir morgen an. Fürs Erste sollte ich meiner Familie beim Eingewöhnen helfen, sonst bekomme ich hier drin genauso viel Ärger wie die Leute dort draußen erwartet, verstehen Sie?«
    Die Männer brachen in Gelächter aus und schüttelten Vater die Hand. Bevor sie gingen, stellten sie sich in einer Reihe auf wie Spielzeugsoldaten, dann schossen ihre Arme und ausgestreckten Hände genauso nach vorn, wie Vater es Bruno beigebracht hatte, schnellten dann mit einer zackigen Bewegung von der Brust nach oben in die Luft, und dabei riefen sie die beiden Worte, die Bruno immer sagen sollte, wenn jemand sie zu ihm sagte. Danach zogen sie ab, und Vater ging wieder in sein Büro, zu dem der Zutritt jederzeit und ausnahmslos verboten war.
    Bruno stieg langsam die Treppe hinunter und zögerte kurz vor der Tür. Er war traurig, dass Vater in der Zeit, seit er da war, noch nicht nach oben gekommen war und ihn begrüßt hatte, auch wenn man ihm ständig erklärte, dass Vater wirklich sehr beschäftigt war und er nicht mit albernen Dingen – wie beispielsweise ihn zu begrüßen – behelligt werden durfte. Jetzt aber waren die Soldaten weg, und für Bruno sprach nichts dagegen, ihn zu besuchen.
    In Berlin war Bruno nur ganz selten in Vaters Büro gewesen, meistens nur, wenn er etwas angestellt hatte und Vater ihm eine ernste Standpauke halten wollte. Trotzdem gehörte die Regel, die für Vaters Büro in Berlin galt, zu den wichtigsten, die Bruno jemals gelernt hatte, und ihm war natürlich klar, dass sie auch in Aus-Wisch galt. Da sie einander jedoch seit mehreren Tagen nicht gesehen hatten, nahm ihm sicher niemand übel, wenn er jetzt zu ihm ging.
    Also klopfte er zaghaft an die Tür. Zweimal, ganz leise.
    Vielleicht hörte Vater es nicht, vielleicht klopfte Bruno auch nicht laut genug, jedenfalls kam niemand an die Tür, deshalb klopfte Bruno erneut, diesmal etwas lauter, worauf die dröhnende Stimme seines Vater rief: »Herein!«
    Bruno drückte die Türklinke, trat ein und nahm seine gewohnte Pose ein: Er machte große Augen, der Mund formte ein staunendes O, und er streckte die Arme aus. Der Rest des Hauses war vielleicht ein bisschen dunkel und düster und bot wenig Möglichkeiten zum Forschen, aber dieser Raum war völlig anders. Zunächst einmal hatte er eine sehr hohe Decke und am Boden einen Teppich, in dem Bruno zu versinken meinte. Die Wände waren kaum sichtbar, denn sie waren von dunklen Mahagoniregalen gesäumt, in denen Bücher standen, wie in der Bibliothek im Haus in Berlin. An der gegenüberliegenden Wand blickten riesige Erkerfenster auf einen Garten und boten Platz für eine gemütliche Sitzbank, und in der Mitte von alldem saß, hinter einem gewaltigen Eichenschreibtisch, Brunos Vater. Beim Eintreten seines Sohnes sah er von seinen Papieren auf und lächelte ihm zu.
    »Bruno«, sagte er und kam hinter dem Schreibtisch hervor, um dem Jungen fest die Hand zu schütteln. Vater gehörte für gewöhnlich nicht zu den Leuten, die andere umarmten, im Gegensatz zu Mutter und Großmutter, die großzügiger mit Umarmungen umgingen, als ihm lieb
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