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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte
Autoren: Luca Di Fulvio
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vielleicht haben sie einen anderen Hund gemeint.«
    Auf halbem Weg zur Straße holte der Metzger Christmas mit dem Messer in der Hand ein. Er packte den Jungen am Kragen seiner zerschlissenen Jacke. Mit seinen gewaltigen Händen hätte er jemanden erwürgen können. Der Mann überragte Christmas um ein paar Spannen. Der Hund jaulte erschrocken auf. »Normalerweise kann diese räudige Kreatur niemanden leiden. Dich aber mag sie. Lass dir das von Pep gesagt sein«, meinte der Metzger mit drohender Stimme und sah Christmas dabei fest in die Augen. »Und ich hänge an ihr.« Nachdem der Mann den Jungen noch eine Weile schweigend fixiert hatte, trat ein Ausdruck des Erstaunens auf sein Gesicht und ließ seine Züge sanfter erscheinen. Offenbar konnte er selbst nicht fassen, was er im Begriff war zu tun. »Es stimmt, die da macht mehr Radau als eine Ehefrau«, sagte er und deutete auf die Hündin. »Aber wenigstens muss ich sie nicht bumsen.« Zufrieden lachte er über den Witz, den er wohl schon unzählige Male gemacht hatte. Noch einmal schüttelte er über sich selbst den Kopf, griff mit blutigen Fingern unter seine Schürze, holte aus der Westentasche einen halben Dollar hervor und drückte Christmas die Münze in die Hand. »Ich muss verrückt sein, aber du bist engagiert. Komm, Lilliput, wir gehen«, sagte er schließlich zu seinem Hund und kehrte zurück in den Laden.
    Kaum war der Metzger verschwunden, sah Christmas auf die Geldmünze. Mit leuchtenden Augen spuckte er darauf und polierte sie mit den Fingerspitzen. Mit Blick auf den Laden lehnte er sich gegen die Wand und lachte. Sein Lachen klang nicht wie das eines Erwachsenen, aber auch nicht wie das eines Kindes. Ebenso wie seine blonden Haare nicht zu einem Italiener passten und seine dunklen Augen nicht zu einem Iren. Ein Junge mit einem Niggernamen, der nicht so recht wusste, wer er war. »Die Diamond Dogs«, murmelte er und grinste zufrieden vor sich hin.

5
    Manhattan, 1922
    Der Erste, den er fragte, war Santo Filesi, ein pickliger, spindeldürrer Junge mit schwarzem Kraushaar, der im selben Haus wohnte und den er grüßte, wenn sie sich begegneten. Mehr verband sie aber auch nicht. Santo war genauso alt wie Christmas, und im Viertel hieß es, er gehe zur Schule. Sein Vater arbeitete als Ladearbeiter im Hafen und war klein und untersetzt, und der tägliche Umgang mit den schweren Lasten hatte ihm irreparabel krumme Beine eingebracht. Man erzählte sich – denn im Viertel wurde viel und gern erzählt –, er sei fähig, zwei Zentner mit nur einer Hand zu heben. Und obwohl er ein rechtschaffener, gutmütiger Mann war, der selbst dann nicht zu Gewalt neigte, wenn er zu viel getrunken hatte, wurde er allgemein geachtet; niemand forderte ihn heraus. Bei einem, der fähig war, zwei Zentner mit nur einer Hand zu heben, konnte man schließlich nie wissen. Santos Mutter hingegen war spindeldürr wie ihr Sohn. Mit ihrem länglichen Gesicht und den langen Schneidezähnen erinnerte sie an einen Esel. Sie hatte eine gelbliche Haut und schmale, knorrige Hände, die sie flink bewegte, allzeit bereit, ihrem Sohn eine Ohrfeige zu verpassen. So kam es, dass Santo bei jeder Geste seiner Mutter instinktiv sein Gesicht schützte. Signora Filesi arbeitete als Putzfrau in der Schule, die Santo den Gerüchten nach besuchte.
    »Stimmt es, dass deine Mutter dir eine Creme gegen die Pickel zusammenmischt?«, wollte Christmas von Santo wissen, als er ihn an dem Morgen, nachdem der Metzger ihn zu Lilliputs Schutz engagiert hatte, auf der Straße traf.
    Santo zog den Kopf ein, errötete und versuchte unbeirrt weiterzugehen.
    Christmas lief ihm nach. »Hey, bist du etwa beleidigt? Ich will dich nicht aufziehen, ich schwör’s.«
    Santo blieb stehen.
    »Willst du Mitglied in meiner Gang werden?«, fragte Christmas.
    »Was für eine Gang?«, hakte Santo vorsichtig nach.
    »Die Diamond Dogs.«
    »Nie gehört.«
    »Kennst du dich denn mit Gangs aus?«
    »Nein ...«
    »Na, dann heißt das ja wohl gar nichts, dass du noch nie von uns gehört hast«, erwiderte Christmas.
    Erneut wurde Santo rot und blickte zu Boden. »Wer seid ihr denn?«, fragte er schüchtern.
    »Es ist besser für dich, wenn du das nicht weißt«, gab Christmas zurück und ließ dabei seinen Blick betont wachsam umherschweifen.
    »Wieso das?«
    Christmas trat auf ihn zu, nahm ihn am Arm und zog ihn in eine Seitengasse, in der überall Müll herumlag. Kurz kehrte er dann noch einmal zur Orchard Street zurück, wie um
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