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Der Junge, der Träume schenkte

Der Junge, der Träume schenkte

Titel: Der Junge, der Träume schenkte
Autoren: Luca Di Fulvio
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legte bloß eine Hand auf das blonde Haar ihres Kindes, das friedlich schlief. Wie um es zu beschützen.
    Da schlug der Anwalt einen harschen Ton an, stieß seinen Sessel zurück und verließ den Raum.
    »Du hast ihn wütend gemacht«, sagte der Dolmetscher, während er sich auf der Schreibtischkante niederließ und sich eine Zigarette anzündete. »Was willst du anfangen, wenn der Anwalt dich auf die Straße setzt, ohne dir zu helfen? Wen kennst du denn? Niemanden, möchte ich wetten. Und du besitzt keinen Cent. Du und dein Sohn, ihr werdet die Nacht nicht überleben, lass dir das von mir gesagt sein.«
    Schweigend und ohne die Hände von Christmas zu lösen, sah Cetta ihn an.
    »Bist du vielleicht stumm?«
    »Ich tue, was ihr verlangt«, sagte Cetta da. »Aber meinen Jungen rührt ihr nicht an.«
    Der Dolmetscher stieß den Qualm seiner Zigarette in die Luft. »Du bist ziemlich stur, Mädchen«, stellte er fest. Dann verließ auch er das Zimmer, ließ aber die Tür offen stehen.
    Cetta hatte Angst. Sie versuchte, sich abzulenken, indem sie den Rauchspiralen nachsah, die wabernd zu einer so wunderschön verzierten Stuckdecke aufstiegen, wie Cetta sie sich nicht einmal im Traum hätte vorstellen können. Vom ersten Moment an hatte sie Angst gehabt. Seitdem der heiter wirkende junge Mann von gedrungener Statur, der dem kleinen Natale seinen neuen amerikanischen Namen gegeben hatte, ihr am Zoll zugeflüstert hatte: »Sei vorsichtig.« Sie erinnerte sich gut an den jungen Mann; er war der Einzige gewesen, der ihr ein Lächeln geschenkt hatte. Cetta hatte vom ersten Moment an Angst gehabt, als die Einwanderungsbeamten ihren Stempel unter die Einreisepapiere gesetzt hatten. Und sie hatte Angst gehabt, als der Anwalt sie am Arm gepackt und über den breiten Pinselstrich am Boden geschoben hatte, der anzeigte, wo Amerika begann. Sie hatte Angst gehabt, als man sie in das riesige schwarze Auto geschoben hatte, neben dem der Wagen des Gutsherrn nichts als ein Karren wäre. Sie hatte Angst gehabt, als das Land aus Zement vor ihren Augen aufragte, so gewaltig, dass alles, was der Gutsherr besaß – sogar die Villa –, armselig und winzig wirkte. Sie hatte Angst gehabt, sich inmitten der Menschen, die zu Tausenden die Gehwege bevölkerten, zu verlieren. Und in dem Moment hatte Christmas gelacht. Ganz leise, wie es Babys manchmal aus irgendeinem Impuls heraus tun. Und er hatte ein Händchen ausgestreckt und sie in die Nase gezwickt und nach ihren Haaren gegriffen. Und wieder hatte er zufrieden gelacht. Nichtsahnend. Für Cetta wäre in diesem Moment alles vollkommen gewesen, hätte er nur sprechen können, hätte er nur ein einziges Mal »Mama« gesagt. In dem Augenblick nämlich war Cetta bewusst geworden, dass sie nichts besaß. Dass dieser Junge alles war, was sie hatte, und dass sie für ihn stark sein musste, weil das winzige Geschöpf noch schwächer war als sie selbst. Und dass sie ihm dankbar sein musste, weil er sie als Einziger noch nie verletzt hatte, auch wenn er ihr bei seiner Geburt mehr Schmerzen bereitet hatte als jeder andere.
    Als Cetta hörte, dass draußen lebhaft gesprochen wurde, wandte sie den Kopf. In der Tür stand ein breitschultriger, schlecht rasierter Mann um die dreißig mit einer erloschenen Zigarre im Mundwinkel. Er war hässlich, hatte große schwarze Hände und eine platte Nase, der man ansah, dass sie bereits mehrmals gebrochen gewesen war. Mechanisch kratzte er sich am rechten Ohrläppchen. In Höhe des Herzens trug er eine Pistole im Holster. Sein Hemd war mit Soße bespritzt. Es konnte natürlich auch Blut sein, aber Cetta hielt es für Soße. Der Mann sah sie an.
    Da brach das Gespräch vor der Tür ab, und der Anwalt kam zurück ins Zimmer, gefolgt vom Dolmetscher. Der Mann mit den rotbraunen Flecken auf dem Hemd trat zur Seite und ließ die beiden anderen vorbei, wandte den Blick jedoch nicht von Cetta ab.
    Der Anwalt schenkte ihr keine Beachtung mehr, als er sprach.
    »Letztes Angebot«, erklärte der Dolmetscher. »Du arbeitest für uns, deinen Sohn geben wir in ein Heim, und du kannst ihn jeden Samstag- und Sonntagmorgen sehen.«
    »Nein«, war Cettas Antwort.
    Der Anwalt schrie auf und gab dem Dolmetscher zu verstehen, er solle sie vor die Tür setzen. Daraufhin schleuderte er ihr die amtlich unterzeichneten Einwanderungspapiere entgegen, die raschelnd zu Boden segelten.
    Der Dolmetscher nahm Cetta am Arm und zwang sie aufzustehen.
    In dem Moment ergriff der Mann in der Tür das
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