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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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Tourismus blühte; es war ein simples Gesetz der Wirtschaftlichkeit.
    »Du solltest die Warnung beherzigen, Miranda«, mahnte Matrosenmütze, während er sich auf die Treppe zubewegte. »Achte darauf, wem du begegnest – im Wasser und an Land.«
    Ich ignorierte ihn und suchte mit den Augen den nun näher rückenden Hafen ab. Ich konnte meine Mutter unter den Gesichtern nicht ausmachen. Mein Blick fiel auf die Landschaft neben dem Hafen – ein rauer, grüner Hügelkamm,der in Richtung Sand und hohes Seegras abflachte. Dieses Stück Natur war so unberührt, so ursprünglich, so weit entrückt von jeder Zivilisation! Mir wurde klar, dass es seit Jahrhunderten unverändert sein musste; vielleicht waren die ersten Seeleute, die nach Selkie gekommen waren – eben jene Seeleute, die womöglich den Kraken erfunden hatten –, an jener Stelle gestrandet.
    Die Fähre legte an. Mir kam der Gedanke, dass Wissenschaftler und Seeleute sich irgendwie ähnelten; beide wollen, mehr als alles andere, Entdeckungen machen. Ein matrosenhaftes Interesse regte sich in mir, als ich meinen Seesack aufhob. Natürlich musste man sich auf Selkie Island vor nichts in Acht nehmen.
    Doch ich konnte mich nicht des Gefühls erwehren, dass es eine Menge Dinge zu entdecken gab.

KAPITEL 2
Gaben
    D u hast es also geschafft!«, rief Mom, als ich gleich hinter dem kleinen Jungen und seinen Eltern von der Fähre stieg.
    »Da bin ich«, gab ich, selbst etwas ungläubig, zurück. Überall standen hohe Sägepalmen mit spitzen Blättern und verliehen dem Hafen ein subtropisches Flair. Die dunstige Luft war dicht von Meersalz durchsetzt.
    Obwohl meine Mutter und ich uns meistens etwas reserviert verhielten, umarmten wir uns, und ich atmete ihren üblichen Duft ein: Franzbranntwein und Feuchtigkeitscreme. Als Mom sich schließlich aus unserer Umarmung löste und mir meinen Seesack abnahm, wurde mir klar, wieso ich sie nicht vom Boot aus hatte erkennen können. Sie sah … anders aus.
    Die Mom, die ich kannte, die geschäftige Chirurgin, hatte immer zerknitterte grüne OP-Kittel an, trug ihr Haar zurückgekämmt, und unter ihren großen grauen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Diese Mom war in eine orangefarbene Tunika über einem langen, fließenden Rock gehüllt. Ihre weichen, hellbraunen Locken fielen ihr auf die Schultern herab, und ihr Gesicht – ovalförmig und hübsch, ein Gesicht, das manche Leute denken ließ, ich sei adoptiert – strahlte in gesundem Glanz.
    »Was ist denn mit dir passiert?«, platzte ich heraus. Ichhatte die geheime Befürchtung, dass ich, wenn ich erst aufs College ginge und dann in den Ferien nach Hause käme, meine Mutter weißhaarig und gebeugt vorfinden würde – plötzlich gealtert. Sie jedoch jetzt so zu sehen, war eine völlig gegenteilige Erfahrung. Seit ihrer Abreise aus New York war Mom jünger geworden.
    Sie kicherte. »Du hast mich eben noch nie mit richtiger Sonnenbräune gesehen. Die Sonne ist mir anscheinend gewogen. Glaub mir, ich hatte noch überhaupt keine Zeit, an den Strand zu gehen.« Sie legte eine Hand um mein Kinn und sah mich liebevoll an. »Dafür habe ich
dir
gestern eimerweise Sonnencreme gekauft, Hauttyp Alabaster – Lichtschutzfaktor 40.«
    Dem munteren Rhythmus ihrer sonst immer so geschäftsmäßig klingenden Stimme konnte ich entnehmen, wie sehr Mom sich freute, dass ich jetzt bei ihr war.
    Vor zwei Tagen hatte sie mich aus Savannah angerufen, wohin sie geflogen war, um der Beerdigung meiner Großmutter, ihrer Mutter, Isadora Hawkins, beizuwohnen. Bei diesem Anlass hatte Mom von ihrer Erbschaft erfahren: das Sommerhaus auf Selkie.
    Moms Geschwister, Tante Coral und Onkel Jim, die beide in Isadoras Nähe in Savannah lebten, waren empört gewesen. Mom und Isadora hatten fast dreißig Jahre nicht miteinander gesprochen. Als Mom jünger war, hatten sie sich bezüglich einer Sache, deren Einzelheiten mir undurchsichtig geblieben waren, zerstritten – irgendetwas, das Moms Heirat mit meinem Vater betraf, einem armen Yankee aus Brooklyn. Niemand konnte glauben, dass Isadora meiner Mutter solch ein Vermächtnis hinterlassen hatte. Mom hatte sowohl erstaunt als auch, hauptsächlich, gereizt reagiert, weil sie nun ihre Arbeit im Stich lassen, nach Selkiehinausfahren und versuchen musste, das alte Haus zu verkaufen.
    »Ich könnte deine Hilfe wirklich gut gebrauchen«, hatte Mom am Telefon gesagt. »Ich möchte so schnell wie möglich Isadoras persönliche Sachen durchsehen, und du, mein Schatz,
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