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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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hast großes Talent, wenn’s ums Organisieren geht.«
    Ich hatte mich leicht geschmeichelt gefühlt, während ich draußen vor meiner High School stand, wo ich eben eine katastrophale Abschlussprüfung in Englisch hingelegt hatte. Ich war neugierig auf die unbekannten Stränge meines Erbguts, die mich mit den Südstaaten verbanden. Und obwohl ich mein Praktikum antreten wollte, hatte sich ein Teil von mir danach gesehnt, dem sich anscheinend glanzlos und einsam abzeichnenden Sommer zu entkommen. Mein neunzehnjähriger Bruder Wade war bei unserem Vater in Los Angeles. Irgendwie gefiel mir die Vorstellung, dass die Geschlechter nun über die entgegengesetzten Landesteile verstreut waren – fast wie die Union und die Konföderierten im Bürgerkrieg.
    Nach mehreren E-Mails ans Museum war mein Praktikumsbeginn auf den 15. Juli verschoben worden, und ich hatte die Reisetickets gekauft.
    »Wie ist es denn bis jetzt gelaufen?«, fragte ich Mom, als wir uns nun unter dem blauen Himmel gegenüberstanden. Das rhythmische Klatschen des Wassers gegen die Anlegestelle wirkte beruhigend.
    Sie stöhnte und legte eine Hand an die Stirn. »Frag bloß nicht. Tante Carol ruft mich ständig an und brüllt herum, dass ihr das Haus eigentlich zusteht, und …« Mom hielt schlagartig inne. Ihre Kinnlade fiel herunter, als ihr Blick auf irgendetwas hinter mir fiel. Unter der Sonnenbräune wurdeihr Gesicht bleich, und für eine verrückte Sekunde fragte ich mich, ob sie womöglich den Kraken sich aus dem Ozean herausmanövrieren sah.
    Ich blickte über meine Schulter und entdeckte Matrosenmütze, der Gepäck auf einen Wagen lud. Der Mann mit den grau melierten Haaren, der auf der Fähre gewesen war, stand neben ihm, nickte und reichte ihm ein paar zusammengefaltete Dollarscheine. Der dunkelhaarige Sohn des Mannes kam eben von der Fähre gelaufen, den Kopf noch immer über sein iPhone gebeugt. Ein paar Hafenarbeiter liefen um sie herum und bereiteten die
Princess of the Deep
auf die Rückreise vor.
    »Wen siehst du denn da?«, fragte ich neugierig, als ich mich wieder zu meiner Mutter drehte.
    »Niemanden«, erwiderte Mom und griff nach meinem Arm. »Komm, du bist bestimmt am Verhungern, und wir müssen noch ein Stück laufen. Autos sind hier auf der Insel nicht erlaubt.«
    Ich warf einen letzten Blick zurück auf die Fähre und eilte dann meiner Mutter nach. Wir verließen den Hafen, bahnten uns einen Weg durch kratziges gelbes Gras und liefen einen Kieselweg hinauf, der sich vom Ufer fortschlängelte.
    Ich hatte noch weitere Fragen auf der Zunge liegen; auf dem sicheren Landstrich von ›Frage-Antwort‹ fühlte ich mich am wohlsten. Ich wollte Mom nach Einzelheiten zum Begräbnis meiner Großmutter ausfragen, einer offenbar pompösen Feierlichkeit. Anscheinend war ein Berg von Magnolien zu einem Abbild Isadoras geformt worden und ein Gospelchor hatte ›Michael, Row Your Boat Ashore‹ gesungen. Ich wollte auch, dass Mom sich eingehender über das Drama mit Tante Carol ausließ. Doch alswir uns schließlich auf einer gepflasterten Straße mit dem Namen Triton’s Pass wiederfanden, verschlug mir die fremde Schönheit unserer Umgebung die Sprache.
    Riesige Eichen säumten die Straße. Ihre grünen Blätter bildeten einen Baldachin über unseren Köpfen, und an feine Spitzen erinnerndes blassgrünes Louisianamoos wehte von den Ästen der Bäume herab und erzeugte einen gespenstischen Effekt. Schmalere Bäume mit weißen Stämmen – »Kreppmyrte«, erklärte Mom im Vorbeigehen – waren mit leuchtend lilafarbenen Blüten übersät, die die Luft mit ihrer reifen Süße durchtränkten. Ein glänzendes, pummeliges Gürteltier tapste direkt hinter uns umher.
    Obwohl die Flora und Fauna der Insel wild und unberührt aussah, fühlte es sich an, als ob Mom und ich über eine elegante, altmodische Promenade spazierten. Hinter den Bäumen lagen säulenverzierte Häuser, und Männer tippten an ihre Hüte, während sie an uns vorbeigingen. Zwei Mädchen in weißen Kleidern kamen auf Fahrrädern angesegelt und riefen uns ein fröhliches »Guten Tag!« zu. Hätte ich an Zeitreisen geglaubt, wäre ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass mich die Fähre in die Vergangenheit transportiert hatte.
    »Da sind wir«, sagte Mom, als wir um eine Ecke bogen und vor einer großen Rasenfläche stehen blieben. Das Haus – das größte, das ich bis jetzt gesehen hatte – war blassblau angestrichen, verfügte über vier Säulen und eine umlaufende, schmiedeeiserne
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