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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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Schulgerüchte besagten, dass das Geld für diese Wandmalerei ursprünglich für einen Swimmingpool vorgesehen war. Ich hätte es geliebt, jeden Tag schwimmen zu können, doch die Wandmalerei mochte ich lieber. Sie gab mir das Gefühl, Teil eines größeren Ganzen zu sein, einer langen, traditionsreichen Reihe von Erfindern, die das Wissen ihrer Vorgänger geerbt hatten.
    »Willkommen im Alten Seemann, Miranda«, sagte Mom sanft, als sie einen Schalter betätigte, um die Deckenventilatoren anzustellen. Ihr Blick ruhte auf mir, und ich fragte mich, ob sie vielleicht ein wenig erstaunt war, mich dort stehenzu sehen – ihr neues Leben plötzlich in ihr altes eingefügt.
    Und während ich auf einen Garderobenständer zuging, der wie ein Anker geformt war, überkam mich ein Gefühl des Erstaunens. War dies wirklich das Haus, in dem Mom geschlafen und gegessen hatte, als sie noch Amalia Blue Hawkins war und nicht meine Mutter? War meine heranwachsende Mom durch diese Vorhalle spaziert, hatten ihre Sandalen den auf den Fußboden gemalten, verblichenen grünen Kompass berührt?
    Ich bekam eine Gänsehaut. Beschwor ich etwa Phantome herauf? Normalerweise ließ ich meiner Fantasie niemals so freien Lauf. Als Mom meinen Rücken berührte, fuhr ich erschrocken zusammen und sie fing an zu lachen. »Ach du meine Güte! Ich wollte dich nur fragen, ob frischer Fisch zum Abendessen genehm ist. Ich hab auf dem Markt Zackenbarsch bekommen und wollte ihn zusammen mit Maiskolben grillen.«
    »Klingt hervorragend«, erwiderte ich wahrheitsgemäß; mir knurrte der Magen. Ich war erstaunt, dass Mom kochen wollte. Zu Hause holten wir das Essen meist von einem thailändischen Imbiss.
    »Und in der Zwischenzeit mache ich uns etwas süßen Tee«, sagte Mom. »Ruh dich doch auf der hinteren Veranda ein bisschen aus und ich komme dann nach.«
    Ich nickte. ›Süßer Tee‹ war Moms Bezeichnung für Eistee mit zwei gehäuften Löffeln Zucker, eins der wenigen Überbleibsel ihres alten Südstaatendialekts. Die meiste Zeit klang Mom wie eine waschechte Bewohnerin aus dem Nordosten; nach ihrer eigenen Aussage hatte sie ihren Georgia-Akzent abgeworfen, sobald sie als Studentin in Yale angekommen war, wo sie dann meinen Vater getroffen hatte.
    Mom dirigierte mich ins Wohnzimmer, wo eine doppelte Terrassentür auf den Ozean hinauswies, und verschwand dann in Richtung Küche, die hinter der Treppe lag.
    Ich trottete durchs Wohnzimmer, vorbei an antiken Sofas, deren Füllung auf der Rückseite herausquoll. Ich spürte, dass ich anfing, mich nach dem anstrengenden Tag zu entspannen. Ich trat auf den marmornen Kaminsims zu und betrachtete die beiden gerahmten Fotografien, die dort aufgestellt waren.
    Das erste Bild zeigte eine Familie, die sich draußen vor dem Alten Seemann versammelt hatte: eine wohlproportionierte Frau mit braunem Haar (Isadora), ein distinguiert aussehender Mann mit Glatze (Jeremiah), zwei Mädchen und ein Junge. Mein Herz schlug schneller, als mir klar wurde, dass das jüngere Mädchen in gestärktem rosafarbenen Kleid, das einen Sonnenschirm über ihr leicht gebräuntes Gesicht hielt und finster dreinblickte, niemand anderer als Mom war. Was bedeutete, dass es sich bei dem anderen Mädchen, grinsend und mit gekräuseltem Haar, um Tante Carol, und bei dem Jungen, der mit schielenden Augen in die Kamera blickte, um Onkel Jim handelte.
    Obwohl Mom und ich niemals nach Savannah fuhren, um sie zu treffen, hatten meine Tante und mein Onkel uns in New York besucht. Tante Carol mit ihrer platinblonden Bubikopffrisur und ihren tausend Kundenkarten hatte sich über die verschmutzte U-Bahn beschwert. Onkel Jim, eine exakte Kopie seines Vaters, wie ich jetzt sah, hatte sich über die schreckliche Qualität des ›Grits‹ beschwert – einer auf geriebenem Mais basierenden Speise, die besonders in den Südstaaten gegessen wird. Nachdem ihre Geschwister abgereist waren, hatte Mom sich über
sie
beschwert.
    Als ich mich dem anderen Bild zuwandte, stockte mirder Atem. Es war ein Foto von Isadora, das wohl aufgenommen worden war, als sie kaum älter war als ich jetzt. Ich hatte noch nie ein Bild meiner Großmutter in so jungen Jahren gesehen. Auf den wenigen Fotos, die Mom von Isadora zu Hause hatte, war meine Großmutter mittleren Alters. Auf diesem Bild hatte sich die jugendliche Isadora auf einer Gartenschaukel zurückgelehnt, ihre koketten dunklen Augen funkelten unter dem Rand eines schleifenverzierten Huts hervor. Sie trug ein trägerloses
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