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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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Thronerben-Party«, erwiderte Mom und schluckte ihren Tee herunter.
    »Tonerden?«, wiederholte ich und dachte an eine chemische Zusammensetzung. Doch dann stellte ich mir eine feierliche Zeremonie am Strand vor, mit flatternden Bannern und bauschigen Gewändern. Ich konnte mir meine Mutter – oder mich selbst – in keinster Weise bei so etwas vorstellen.
    Mom neigte den Kopf und lächelte. »So wie Thron und Erben oder Erbinnen. Weißt du …« Wie um ihren Worten Nachdruck zu verleihen, schüttelte sie ihr Handgelenk, was die Eiswürfel in ihrem Tee zum Klimpern brachte. »Die Nachfahren derjenigen, die seit Ewigkeiten ihre Sommer auf Selkie verbracht haben. Die Familie LeBlanc, eine der bekanntesten auf der Insel, hat diese Tradition Ende des neunzehnten Jahrhunderts eingeführt. In der letzten Juniwoche treffen sich alle Sommergäste und begießen ihren Wohlstand.« Mom verdrehte die Augen, doch die nostalgische Wehmut in ihrer Stimme war nicht zu überhören.
    »Dann sind wir eingeladen?«, fragte ich, leicht verblüfft angesichts des ganzen Pomps und der alten Traditionen. Ich war nicht völlig uninteressiert; nach dem letzten Monat war es vielleicht ganz nett, mal wieder ein paar Leuten zu begegnen. Nicht dass ich irgendwas Passendes zum Anziehen dabeigehabt hätte – abgesehen von meinen mitgebrachten T-Shirts und Jeans hatte ich nur eine einzige Baumwollbluse mit Kordelverschluss eingepackt, die ein Loch im Saum hatte.
    »Als ich gestern Abend ankam, lag die Einladung im Briefkasten«, bestätigte Mom und schlug die Beine übereinander.
    »Eigentlich für Isadora. Sie hat immer ganz automatisch eine Einladung bekommen.«
    »Aber gehören
wir
denn hierher?«, fragte ich und trank meinen Tee aus.
    »Das tun wir«, antwortete Mom ruhig und sah mich an. Mir wurde klar, dass sie schon viele Male auf dieser Party gewesen sein musste. »Ob es dir gefällt oder nicht, du bist eine Erbin, Miranda. Und ich ebenfalls.«
    Meine Haut kribbelte und ich blickte wieder aufs Meer. Niemand von uns bittet je um die Dinge, die wir erben; sie werden uns aufgebürdet, wohl oder übel. So wie der Alte Seemann, das begriff ich plötzlich. Mom und ich befanden uns
keineswegs
auf fremdem Eigentum. Dieses Haus gehörte uns. Dieser Ausblick gehörte uns. Was mir genauso absurd und unwirklich vorkam wie das Seemannsgarn, das Matrosenmütze auf der Fähre für mich gesponnen hatte.

KAPITEL 3
Geschichten
    G leich nach dem Abendessen entschied ich mich, schwimmen zu gehen. Der verlockenden Nähe des Meeres war nicht zu widerstehen, also eilte ich nach oben, um meinen Badeanzug überzustreifen.
    Der Raum, in dem ich schlafen sollte, war in den alten Tagen das Schlafzimmer von Mom und Tante Carol gewesen. Mit seiner rosafarbenen Muschel-Tapete und den über die beiden Doppelbetten geworfenen Quilts schien es wie aus einer anderen Zeit. Ich war kein Fan von Rosa und beneidete Mom, die sich im blaugrünen Elternschlafzimmer am Ende des Flurs eingenistet hatte.
    Ich knallte meinen Seesack auf eines der Betten und fing an, meine sorgfältig zusammengelegten Kleiderstapel in den Schubladen der hölzernen Kommode unterzubringen. Nichts beruhigte mich mehr, als Ordnung zu schaffen. Es war nicht verwunderlich, dass zu Hause in meinem Zimmer Dimitri Mendelejews Periodentabelle der Elemente über meinem Schreibtisch hing – eine Art Inspirationsquelle. Wahrscheinlich war ich die einzige lebende Sechzehnjährige mit einer solchen Zimmerdeko.
    Sobald ich ausgepackt hatte, zog ich meine Klamotten aus und schlüpfte in meinen schwarzen, einteiligen Badeanzug. Ich zögerte eine Sekunde, bevor ich meine Chucks wegkickte. Zu dieser Zeit würden sich wahrscheinlich keine anderenSchwimmer am Strand aufhalten, sodass ich barfuß bleiben konnte.
    Ich bin an beiden Füßen mit Schwimmhäuten zwischen den Zehen geboren worden – ›wie eine niedliche, kleine Ente‹, würde Dad sagen. Da meine Eltern beide Ärzte für Plastische Chirurgie sind, ließen sie mich von einem ihrer Kollegen frühzeitig operieren, und die Schwimmhäute wurden entfernt.
    Doch noch immer sehen meine Füße unbestreitbar merkwürdig aus; einer Stickerei ähnelnd ziehen sich Narben über die Haut zwischen meinen Zehen, und die Zehen selbst sind leicht gebogen. ›Syndaktilie‹ ist die exakte Bezeichnung für diesen Zustand; ich habe jede Menge recherchiert und über die Entwicklung der Babys im Mutterleib gelesen. In meiner Familie bin ich die Einzige mit dieser Fremdartigkeit, von
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