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Der Junge aus dem Meer - Roman

Der Junge aus dem Meer - Roman

Titel: Der Junge aus dem Meer - Roman
Autoren: Aufbau
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gemacht. Ich schlich, wie ich dachte, auf die Küche zu, um nachzusehen, ob noch etwas von dem süßen Tee übrig war. Ich erinnerte mich, dass die Küche hinter der Treppe lag, schlug jedoch offenbar in der Dunkelheit die falsche Richtung ein. Irgendwie fand ich mich in einem engen Flur wieder – und stand einem verhärmten alten Mann gegenüber.
    Um meinen Aufschrei zu ersticken, schlug ich mir die Hand vor den Mund, realisierte jedoch im gleichen Augenblick, dass ich ein Gemälde anstarrte. Es war das Porträt eines Mannes mit weißer Mähne und wilden Augen, der eine zerlumpte Matrosenuniform trug, Tätowierungen auf beiden Armen hatte und eine Flasche in der Hand hielt. Er war abscheulich. Um seinen Hals war ein dickes Tau geschlungen, an dessen verknotetem Ende ein riesiger weißer Vogel baumelte.
Ein Albatross!
, wie mir schaudernd klar wurde.
    Das war also der Seefahrer aus dem Gedicht, der herrschende Geist des Hauses. Mom hatte vielleicht recht: Wenn ich mit der Literatur vertraut gewesen wäre, hätte ich das Porträt womöglich gleich erkennen und mir einen kleineren Herzinfarkt ersparen können.
    Als hätte das Haus meine Gedanken gelesen, versetzte ein Luftzug die Tür neben dem Gemälde in leichte Bewegung. Ich fasste nach dem Türknauf und spähte in ein kleines Arbeitszimmer. Tapfer schaltete ich das Licht an und trat ein. Im Innern befanden sich ein antiker Holzschreibtisch sowie ein Stuhl mit hoher Rückenlehne und ein purpurfarbenes kleines Sofa. An den Wänden standen Bücherregale aus Mahagoniholz. Den einzigen Wandstreifen, der nicht von Büchern bedeckt war, zierte ein weiteres Aquarell, doch dieses Porträt erschreckte mich nicht.
    Es war ein Bild Isadoras in einem grünen Seidenkleid.In majestätischer Pose stand sie auf der Treppe des Alten Seemanns. Der Maler hatte neckische kleine Schnörkel hinzugefügt: Pfirsichblüten ragten über ihrem Kopf herab, und sie hielt einen pelzbesetzten Überwurf in den Händen, für den niemand südlich der Mason-Dixon-Linie – der traditionellen Grenze zwischen den Nord- und Südstaaten der USA – je Verwendung gehabt hätte. Die ganze Aufmachung war urkomisch und schrie förmlich nach Scarlett O’Hara. Nicht zufällig lag auf dem Regal unterhalb des Porträts eine Ausgabe von
Vom Winde verweht
.
    Neugierig darauf, was meine Großmutter ansonsten noch als lesenswert erachtet hatte, überflog ich den Rest der Regale. Die Bücher waren weder alphabetisch noch thematisch geordnet, und die mangelnde Übersicht verursachte mir Kopfschmerzen.
Marion Brown’s Southern Cooking Book
stand neben
Romeo und Julia
, das sich wiederum an die
Gesammelten Gedichte
von T. S. Eliot und eine Ausgabe von Andersens Märchen lehnte. Nichts reizte mich sonderlich. Doch als ich die Worte
Selkie Island
auf dem unteren Teil eines abgegriffenen dunkelblauen Buchrückens sah, zog ich den Band heraus.
    Der Buchdeckel löste sich in meinen Händen beinahe ab, und ich musste zweimal hingucken, als ich eine Abbildung des Warnschilds, das über der Hafeneinfahrt von Selkie hing, darauf entdeckte. Der Buchtitel EINE EINFÜHRUNG IN DIE LEGENDEN UND ÜBERLIEFERUNGEN VON SELKIE ISLAND zierte den oberen Teil des Buchdeckels, und der Name des Autors, Llewellyn Thorpe, war in Schreibschrift auf den unteren Teil gedruckt. Ich drehte das Buch um, wischte die Staubschicht von der Rückseite und las den in goldenen Lettern verfassten Absatz:
     
    Viele fühlen sich von Selkie Island angezogen. Wenige wissen, warum. Selkies Geist des Geheimnisvollen umgibt die Insel wie das berühmte Leichentuch des Nebels. Doch die zahlreichen Legenden der Insel – von Bestien, von Ungeheuern, von schiffbrüchigen Seeleuten – sind unzweifelhaft anziehend. Der Band, den Du in den Händen hältst, geneigter Leser, ist ein Leitfaden zu diesen Legenden. Genieße ihn mit Vorsicht.
     
    Ich grinste. Noch mehr Lügengeschichten? Vielleicht war Matrosenmütze ja Llewellyn Thorpe.
    Der dünne Buchrücken gab ein Knacken von sich, als ich das Buch öffnete, und ein moderiger Geruch schlug mir entgegen. Die Vorderseite zeigte eine grobkörnige Landkarte, die Selkies Lage im Atlantik verdeutlichte, doch die Insel war von Zeichnungen geflügelter Fische, Kraken und Meerjungfrauen umgeben.
    Ich blätterte durch die glatten, vergilbten Seiten bis zum Ende des Buchs. Dort stieß ich auf die Federzeichnung eines spindeldürren Mannes, der eine Brille und einen Anzug trug. Unter diesem Bild stand:
     
    Llewellyn Thorpe wurde
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