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Der Janusmann

Der Janusmann

Titel: Der Janusmann
Autoren: Lee Child
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bin ich mir ganz sicher.«
    »Müssen Sie sie verständigen?«
    Er schüttelte den Kopf. »Sie erwartet mich. Solange ich aufkreuze, brauche ich sie nicht zu verständigen.«
    »Die Cops werden sie anrufen. Sie glauben, ich hätte Sie entführt.«
    »Sie kennen die Nummer nicht. Die kennt niemand.«
    »Das College muss Ihre Adresse haben. Dann lässt sich die Telefonnummer rauskriegen.«
    Er schüttelte wieder den Kopf. »Das College weiß unsere Adresse nicht. Die weiß niemand. Mit solchen Dingen sind wir sehr vorsichtig.«
    Ich zuckte mit den Schultern und schwieg eine Weile.
    »Und was ist mit Ihnen?«, fragte ich dann. »Werden Sie mich verpfeifen?«
    Ich sah, wie er sein rechtes Ohr berührte. Das eine, das noch da war – eine völlig unbewusste Bewegung.
    »Sie haben meinen Arsch gerettet«, antwortete er. »Ich werde Sie nicht verpfeifen.«
    »Okay«, sagte ich. »Mein Name ist Reacher.«
     
    Wir verbrachten ein paar Minuten damit, einen winzigen Zipfel Vermonts zu durchqueren, um dann durch New Hampshire nach Nordosten zu fahren. Richteten uns auf die lange Fahrt ein. Das Adrenalin baute sich langsam ab, und der Junge überwand seinen Schock. Erschöpfung und Müdigkeit überkamen uns. Ich öffnete das Fenster einen Spalt weit, um etwas frische Luft hereinzulassen. Das hielt mich wach. Richard Beck erzählte mir, er sei zwanzig und im vorletzten Studienjahr. Sein Hauptfach im College war irgendeine Art zeitgenössischer Kunstausdruck, der mich sehr an Malerei mit Fingerfarben erinnerte. Er war ein Einzelkind und hatte Schwierigkeiten, Beziehungen aufzubauen. Seine Familie – ein anscheinend sehr eng miteinander verwobener Clan – sah er äußerst ambivalent. Ein Teil von ihm wollte dort raus, während der andere nur im Familienverband überleben konnte. Seine frühere Entführung schien ein schweres Trauma hinterlassen zu haben. Ich frage mich unwillkürlich, ob ihm außer der Sache mit dem Ohr noch etwas anderes widerfahren war. Vielleicht etwas viel Schlimmeres.
    Ich erzählte ihm von der Army. Meine Qualifikationen als Leibwächter strich ich dabei heraus. Ich wollte ihm das Gefühl geben, zumindest vorläufig in guten Händen zu sein. Ich fuhr schnell und sicher. Der Maxima war voll getankt, sodass wir unterwegs nicht zu tanken brauchten. Ich hielt einmal an, um auf die Toilette zu gehen. Dann fuhren wir auf dem Highway weiter, passierten Concord in New Hampshire und nahmen Kurs auf Portland in Maine. Die Zeit verging. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto entspannter, aber auch schweigsamer wurde er.
    Wir überquerten die Staatsgrenze. Ungefähr zwanzig Meilen vor Portland betrachtete er aufmerksam die Umgebung und forderte mich dann auf, die nächste Ausfahrt zu nehmen. Wir bogen in eine schmale Straße ein, die genau nach Osten in Richtung Atlantik verlief. Sie führte unter der I-95 hindurch und mehr als fünfzehn Meilen weit über eine Landzunge bis ans Meer. Die Landschaft hätte im Sommer großartig ausgesehen, doch um diese Jahreszeit wirkte sie rau und abweisend. Hier gab es in der salzhaltigen Luft verkümmerte Bäume und nackte Felsen, von denen Wind und Sturmfluten den letzten Humus gefegt hatten. Die Straße wand und schlängelte sich, und manchmal war der bleigraue Atlantik zu sehen. Die Straße verlief zwischen zahllosen Buchten, die hin und wieder kleine Strände mit grobkörnigem Sand aufwiesen. Dann führte sie nach einer engen Links-Rechts-Kurve auf eine Landspitze hinaus. Sie war wie eine Handfläche geformt und verengte sich abrupt zu einem direkt ins Meer hinausragenden einzelnen Finger. Er bildete eine schätzungsweise hundert Meter breite und achtzig Meter lange felsige Halbinsel. Ich konnte spüren, wie der Wind den Nissan durchrüttelte. Ich fuhr auf die Halbinsel hinaus. Eine Reihe krummer immergrüner Bäume versuchte, eine hohe Granitmauer zu tarnen, was aber nicht gelang, weil sie dafür weder groß noch breit genug waren. Die Krone der gut zweieinhalb Meter hohen Mauer war mit großen Rollen Bandstacheldraht gesichert. Außerdem hatte man in regelmäßigen Abständen Sicherheitsscheinwerfer angebracht. Sie verlief quer über den mehr als hundert Meter breiten Felsfinger. Die scharf abgewinkelten Mauerenden führten bis zum Meer hinunter, wo sie von massiven Steinfundamenten voller Seetang getragen wurden. Genau in der Mauermitte befand sich ein Eisentor. Es war geschlossen.
    »Wir sind da«, sagte Richard Beck. »Hier wohne ich.«
    Die Straße führte direkt auf das
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