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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
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haben ihn mir zurückbehalten. Den jüngsten haben sie vor einer Woche eingezogen. Hoffen wir, dass sie so gesund und munter wiederkommen, wie sie gegangen sind. Ihr lest doch die Zeitungen, was glaubt Ihr, wird Italien wirklich bald in den Krieg eintreten?«
    Es war das Frühjahr 1915. Der Fremde wurde ernst und stellte eine beruhigende Prognose, die kaum mehr als eine Hoffnung war: »Ich glaube nicht. Und wenn es eintritt, wird der Krieg nicht mehr lange andauern, so heißt es zumindest. Eure Söhne werden bald zurückkehren.« Das waren genau die Worte, die der besorgte Vater hören wollte.
    »Euer Wort in Gottes Ohr!«, sagte Alberto. Er erzählte von den Opfern, unter denen man die Kinder großgezogen hatte und die man für ihre Zukunft brachte. Schon als junger Mann hatte er sich als Akkordarbeiter in der Schwefelmine zwischen Strongoli und San Nicola dell’Alto verdingt. Auch er grub, aber unter der Erde, manchmal kam er mit zerschundenem Rücken aus dem Stollen, mit Gift im Leib, in den Lungen, in der Kehle, um danach noch auf den Feldern zu buckeln. Fünfzehn Jahre so, mit einem einzigen Gedanken im Kopf: aus dem Dunkel aufzusteigen, aus dem Gestank des Stollens an das Licht und in den Duft des Hügels, und ihn Scholle um Scholle zu erwerben. Die ersten zwei Anteile, jedes zu fünf Morgen, hatte er von seinem seligen Vater und dessen kinderlosem Bruder geerbt. Doch sie waren steinig und unfruchtbar wie die anderen Böden auch, welche die Bauern im Anschluss an die Flurparzellierung im Jahr 1892 erhalten hatten. Die Flächen des Rossarco, die zu weit von Spillace entfernt lagen und seit Jahrhunderten unbewirtschaftet waren, hatten die Arcuris jenen Dorfbewohnern abgekauft, die das Land verließen, um möglichst schnell nach La Merika auszuwandern.
    Nicht einmal er wusste, wie es gelungen war, den Rossarco in ihren Besitz zu bekommen. Es war eine Mischung aus Opferbereitschaft, Glück und Verstand gewesen und vor allem eine Willensstärke, noch härter als der steinige Boden, dener mit Hilfe seiner Söhne am Ende bezähmt hatte. Auch deshalb konnte er es nicht erwarten, dass sie zurückkehrten.
    »Habt Ihr hier beim Umspaten je etwas Antikes gefunden, zum Beispiel eine Münze oder Terrakottascherben?«, fragte Paolo Orsi und brachte das Gespräch damit wieder auf den Grund seiner Erkundungen zurück.
    »Schön wär’s! Vielleicht die Tonscherben eines Kruges, ja, aber nichts von Wert. Ich kenne jede Handbreit dieses Hügels, außer den Sockel nackter Erde um den Piloru herum, der uns nicht gehört, und die Schlucht der Timpalea, die eher für Ziegen als für Menschen gemacht ist.« Er machte eine Pause, um Atem zu holen, und zwang sich zu einem vorauseilenden Lächeln. »Wenn Ihr hingegen in meinem Dorf herumfragt, werdet Ihr hören, dass wir einen Beutel Goldmünzen gefunden und uns mit ihrem Verkauf den Rossarco genommen haben. Wenn eine Familie wie wir vorankommt, glauben die Neider mehr ihren Hirngespinsten als ihrem Verstand.«
    »Von Neid und Missgunst hier in Kalabrien weiß ich auch so einiges zu berichten ... Aber sagt mir, Signor Arcuri, habt Ihr die Scherben der Amphore aufbewahrt?«
    »Nein, die haben wir zusammen mit dem Geröll in die Fiumara geworfen.«
    »Schade«, meinte Paolo Orsi, und dann gab er einen Rat, der in seinem polternden Tonfall mehr wie eine unumstößliche Order klang: »Wenn Ihr auf weitere Scherben stoßt, vor allem auf schwarz bemalte oder sonst wie verzierte, hebt sie auf. Vielleicht findet sich unter hundert Stück ja eine, die für unsere Erkundungen interessant ist.«
    »Ja, in Ordnung«, sagte Alberto mit einem pfiffigen Lächeln auf den Lippen. Und er nahm einen tiefen Schluck Wein, um das Versprechen zu bekräftigen.
    Als sie die Hütte verließen, war die Sonne hinter dem Sila-Gebirge untergegangen, die prächtigen Farben des Hügels waren wie von einem Schleier milchigen Lichts überzogen, und der Wind roch nach Meer.
    Bevor er sich verabschiedete, beschrieb Paolo Orsi mit dem Blick einen Halbkreis, der den ganzen Hügel und die ihn umgebende Landschaft einschloss, bis nach Spillace. Im selben Moment sah er einen weißen Vogel, der tschilpend und einsam über der Casella hin und her schoss.
    »Das ist eine weiße Schwalbe«, klärte ihn Alberto auf. »Seit zwei Tagen fliegt sie hier kreuz und quer über den Himmel. Sie sucht ihre Gefährten, findet sie, bleibt kurz bei ihnen, flattert dann weiter und weiß nicht, wohin: Flattert und flattert mit offenem
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