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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
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jüngeren Ereignissen komme ich oft durcheinander und vergesse sie zusehends. Wenn du nach meinem Tod alles erzählst, machst du mir eine doppelte Freude, und eines Tages wirst du verstehen, warum.«
    Wir standen auf dem Hügel des Rossarco. Am nächsten Tag, dem 27. August, sollte ich ins Trentin zurückkehren, wo ich an einer Mittelschule unterrichtete. Meine Sommerferien neigten sich dem Ende zu, und ich hatte meine Frau Simona am Strand bei Punta Alice zurückgelassen, um den Tag vor der Abreise mit meinem Vater zu verbringen. Die ganze Zeit hatte ich fast ausschließlich geschwiegen und beklommen seiner Wahrheit der Begebenheiten gelauscht, unterbrochen von zornigen Ausrufen und sorgenvollen Seufzern, als fürchte er, mich nie mehr wiederzusehen.
    »Versprochen?«
    Ich sah ihn ohne Erwiderung an: In seinen Augen glomm ein trübes Licht aus Wut und Unrast. Er, der beliebteste Lehrer an der Schule von Spillace, unserem Dorf, wirkte nun wie ein einsamer Bandit, der am liebsten auf dem Rossarco Wurzeln geschlagen hätte wie einer seiner jahrhundertealten Olivenbäume, mit langem, struppigem Bart und quer über die Schulter gehängtem Jagdgewehr, von dem er sich nicht einmal zum Schlafen trennte aus Furcht vor wer weiß welchen Anschlägen.
    »Versprochen?«, rief er ungeduldig.
    Am liebsten hätte ich erwidert: »Nein, Pà, besteh bitte nicht darauf«, doch stattdessen nickte ich verlegen: Mein Lebtag hatte ich ihm nichts abschlagen können. Über sein Gesicht huschte ein befriedigtes Lächeln. Dann fuhr er fort, genüsslich von seinem Vater Arturo, dem größten Sturkopf und Rebellen der Familie Arcuri, zu erzählen, von den ersten Ausgrabungen auf dem Hügel, von den Geheimnissen, die darunter verborgen lagen, von der stürmischen Liebe zu meiner Mutter, die ihn immer noch umtrieb. Über die zwei toten Männer zwischen dem Wald von Tripepi und den Kirschbäumen lediglich ein paar eingestreute Andeutungen, mit denen er als geübter Fabulierer meine Aufmerksamkeit wachhielt. Und je länger er erzählte, desto gelassener wurde er, so als würfe er endlich einen unerträglichen Ballast ab oder fände in den Geschichten den Grund und die Kraft, sich von Spillace zu trennen. »In weniger als einem Monat, sobald ich die Hütte hergerichtet habe, werde ich hierherziehen«, schloss er.
    Ich reagierte nicht darauf. Seit Jahren kündigte er diese bizarre Trennung an, doch den endgültigen Schritt vollzog er nie, und ich war überzeugt, dass er ihn auch dieses Mal nichttun würde. Im Übrigen schwirrte mir der Kopf von tausend Bildern, die einander in wilden Strudeln überlagerten, ohne dass ich eines hätte fassen können, um bei ihm mit der Einlösung meines Versprechens zu beginnen.
    Mein Vater hingegen konnte in meinen Gedanken lesen (wenn auch vielleicht nicht in meinem Herzen), und kurz bevor ich mich verabschiedete, um Simona abzuholen, schlug er mir vor: »Fang bei der Ankunft des Fremden auf unserem Hügel an. Der Rest ergibt sich von selbst. Folge einfach der Wahrheit des Lebens.«

1
    Sie beschatteten ihn seit Tagen, ohne dass es ihm auffiel, er ging schnellen Schrittes, mit gesenktem Kopf und gerunzelter Stirn. Was suchte er auf dem Hügel? Hin und wieder hielt er inne, nahm einen Block aus der Jackentasche und notierte darin etwas, an den Stamm eines Olivenbaums gestützt. Dann schob er sich die Brille auf die Nasenspitze, hob den Blick des spionierenden Fremden vom Papier und hielt sich die offene Hand schützend über die Augen, um besser in die Ferne zu sehen.
    Der Hügel hatte die längliche und geschwungene Form eines am Strand liegenden umgedrehten Bootes. Als Farbe dominierte das purpurne Rot der Süßkleeblüten. Rundherum Obstbäume, Mastixsträucher, Lorbeer-, Ginster-, Rosmarinund Holunderbüsche, ein Weinberg, uralte Olivenbäume und Flecken von Feigenkakteen hier und da, außerdem ein Steineichenwald, der die abgewandte Seite wie eine halbe, schief sitzende Krone überzog.
    Mehr als ein reales Bild musste die Landschaft ihm wie ein mediterranes Gemälde in einem Rahmen aus blendendem Licht vorkommen, wäre da nicht dieser Duft gewesen, der in die Luft aufstieg. Der Mann atmete ihn begierig ein, man sah, dass er ihn mochte, er kam direkt aus der Haut und dem Bauch des Hügels, kitzelte ihn angenehm in der Nase wie das Aroma von frisch gebackenem Brot. Er lächelte, das erste Mal während seiner tagelangen einsamen Wanderungen.Und mit diesem Lächeln auf den Lippen wandte er sich der Seite des Hügels
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