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Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
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zu, die zum Ionischen Meer hin abfiel.
    Er durchquerte das Weizenfeld und strich mit den Händen über die grünen Ähren. Es war die Geste eines Kindes, fast eine Liebkosung, die so gar nicht zu seiner würdigen Haltung passen wollte, der tiefen Stirnfurche, dem graumelierten Spitzbart eines reifen Mannes. Er ahnte nicht, dass er beobachtet wurde, und bis zum großen Olivenbaum fiel ihm weiterhin nichts auf.
    An diesem Punkt erlosch sein Lächeln jäh. Aus einem Mastixstrauch war ein Mann mit einem Gewehr im Anschlag getreten, der ihn zum Anhalten aufforderte: »Bleibt stehen, aber sofort. Ein Schritt, und ich erschieße Euch. Seit drei Tagen geistert Ihr hier herum. Warum? Es ist weder die Jahreszeit für Schnecken noch für Pilze.«
    Mit festem Blick auf das Gewehr, als wolle er es unschädlich machen, erwiderte der Fremde: »Ich habe kein Geld bei mir.« Vielleicht dachte er, den letzten Briganten vor sich zu haben, der sich einbildete, Herr der Gegend zu sein.
    Sein Gegenüber lachte verächtlich, die Augen von der Krempe eines Schlapphutes überschattet. Sein Gesicht war dunkel von der Sonne, grau vom Bart, die Zähne gelb und sein Körper robust wie der eines gut genährten Bauern. »Ich bin kein Räuber und auch kein Verbrecher. Mir gehört dieses Land, mein Name ist überall respektiert: Arcuri Alberto. Und wer seid Ihr?«, bellte er.
    »Ich heiße Paolo Orsi. Ich bin Archäologe und komme aus dem Trentin.«
    »Und was ist das, ein Archologe ?«
    »Ich mache Ausgrabungen und rekonstruiere mit demgefundenen Material die Geschichte antiker Völker«, erwiderte der Fremde ruhig.
    »Was sucht Ihr hier oben?«
    »Ich suche die antike Stadt Krimisa und ihr berühmtes Heiligtum des Apollon Alaios, die beide seit Jahrtausenden unter einem dieser Hügel bei Punta Alice begraben liegen.«
    »Aha«, machte Alberto mit einem Rest Misstrauen in der Stimme. Er hatte Paolo Orsis Worte nicht ganz verstanden, doch immerhin senkte er das Gewehr und forderte ihn mit freundlicheren Gesten auf, ihm zu folgen.
    Sie gingen bis zu einer großzügigen Steinhütte, der sogenannten casella , die als Stall, Vorratsraum, Regenunterstand und Schlafplatz diente, hauptsächlich zur Getreideernte und Weinlese.
    »Kommt herein«, sagte Alberto zu dem Gast und hielt die Tür auf. Er hieß ihn auf einem Holzhocker Platz nehmen und bot ihm Wein aus einer kleinen Amphore an, die er gancella nannte. Dann klärte er ihn auf: »Ihr werdet seit einigen Tagen von den Wachen beobachtet. Es geht das Gerücht, Ihr wärt ein österreichischer Spion.«
    Paolo Orsi brach in ungläubiges Gelächter aus.
    »Das ist nicht zum Lachen«, fuhr Alberto fort. »Wenn Ihr Euch hier weiter grundlos herumtreibt, sperren sie Euch sicher ein.«
    »Aber ich habe einen Grund, einen sehr guten Grund, ich habe nichts zu befürchten. Und gerade jetzt, da ich glaube, es gefunden zu haben: das Ausgrabungsgebiet, das auf den antiken Landkarten Piloru heißt, am Abhang dieses Hügels gegenüber der Landzunge Punta Alice.« Er schrie es fast heraus, so dass sich sein Gegenüber fragte, ob er wohletwas taub sei, denn er wirkte nicht erbost, er lächelte sogar, beflügelt durch den kräftigen Wein, den er getrunken hatte.
    Paolo Orsi sagte, dass die Archäologie seit vierzig Jahren sein Leben sei, die Mitarbeiter nannten ihn hinter seinem Rücken »den Trüffelhund«, er irrte sich fast nie. Und dann erzählte er von den außergewöhnlichen Entdeckungen, die er in Sizilien und Kalabrien gemacht hatte, ausgehend von einem Stein, einer Handvoll Erde, einer Intuition. Mit der Begeisterung eines Kindes rief er unbekannte Worte in den Raum wie Fibeln, Nekropolen, Votiv-Pinakes und die Namen geheimnisvoller Orte: Hipponion, Medma, Kaulonia, Taurianum, Rhegion, Temesa, Terina, Locri Epizephyrii, wo er in den letzten Jahren gegraben habe oder weitere Ausgrabungskampagnen organisieren wolle, schloss er, schließlich sei er auch Leiter des Denkmalamts für die klassische Antike Kalabriens. In seiner Stimme lag keine Spur von Aufschneiderei, nur obsessive Leidenschaft.
    So ein Mann hatte bestimmt keine Familie, dachte Alberto Arcuri und fragte: »Habt Ihr Kinder?«
    »Nein, ich bin nicht verheiratet und werde auch niemals heiraten. Eine Frau würde nur meinem Beruf im Wege stehen. Ich mag Kinder, aber ich hätte keine Zeit, mich um sie zu kümmern. Und Ihr?«
    »Drei Söhne: Michele, Arturo und Angelo. Alle drei beim Militär, leider, der älteste sollte dieser Tage entlassen werden, aber sie
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