Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hügel des Windes

Der Hügel des Windes

Titel: Der Hügel des Windes
Autoren: Carmine Abate
Vom Netzwerk:
liegen sah. Aber du musst mir schwören, dass du nie jemandem davon erzählst, auch nicht deinen Brüdern, und dass du alles vergisst, du hast nichts gesehen, rein gar nichts. Sonst kommt das Verderben über unsere Familie, und dann sind wir alle des Unglücks.«
    Also hatte das Kind es geschworen, hatte Zeige- und Mittelfinger aneinandergelegt und zweimal darauf geküsst. Doch sosehr Arturo sich auch mühte, es zu vergessen, im Dunkel der großen Kammer leuchtete das graue und zornige Auge des Mannes immer wieder auf.
    Wer waren diese beiden blutverschmierten Männer, wer hatte sie erschossen und warum? Er fand keine Antwort, und die Mutter konnte er nicht fragen: Versprochen ist versprochen. Er küsste sich erneut auf die geschlossenen Finger, als hätte er sich versündigt, und schlief endlich ein.
    Eines Tages holte ihn der Vater noch vor Morgengrauen aus dem Bett und sagte mit feierlicher Stimme: »Aufwachen, Arturo, wir gehen zur Arbeit. Du bist nun groß und stark genug und musst mithelfen, für unser Vorankommen zu sorgen.«
    Das Kind gähnte. Vorankommen? Er begriff nicht, er war schrecklich müde und das frühe Aufstehen nicht gewohnt, er schlief den ganzen Weg auf der Kruppe des Esels, an Micheles Rücken gelehnt. Der duftende Wind des Hügels und die Stimme des Vaters weckten ihn, er musste vom Esel steigen und bekam eine Hacke in die Hand gedrückt. Die Zeit der Kriegsspiele war endgültig vorbei.
    Wie seine Brüder wurde auch Arturo schlagartig erwachsen, im Alter von neun Jahren. Die Landarbeit war anstrengend, aber zum Glück abwechslungsreich, sie langweilte und schreckte ihn nicht. Nur wenn er zwischen dem Wald von Tripepi und den Kirschbäumen hindurchlief, rann ihm ein kalter Schauer über den Rücken, und selbst mit geschlossenen Augen sah er den Mann im Gras liegen, der ihn zornig anblickte, fast als habe er ihn mit einem seiner unfehlbaren Pfeile getötet. Manchmal war er versucht, den Brüdern davonzu erzählen: Vielleicht, wenn er dieses Geheimnis loswürde, so dachte er, würde das graue Auge des Toten ihn nicht mehr verfolgen, doch dann hätte die Mutter ihm zur Strafe gnadenlos die Gurgel umgedreht, so wie sie es mit den Hähnchen für den Sonntagsbraten machte. Also schwieg Arturo lieber.
    »Versprochen ist versprochen«, wiederholte die Mutter, während der Vater nie mehr in die Mine ging, all seine Kraft auf die Feldarbeit konzentrierte und jeden Morgen die Söhne und seine Frau anspornte: »Die anderen Dorfbewohner verlassen in Massen das Land und gehen nach La Merika, weil sie und ihre Familien hier hungern. Wenn wir so weitermachen, wenn wir nicht vor der harten Arbeit zurückschrecken, liegt unser La Merika weniger als eineinhalb Stunden von zu Hause entfernt; überhaupt, unser Land ist besser als La Merika, denn wir kennen keine Herren, die uns herumkommandieren und uns zwingen, härter zu buckeln als ein Muli.«
    Jahr um Jahr dieselben Worte, dieselbe Beharrlichkeit. Bis die Söhne zum Militärdienst einberufen wurden, einer nach dem anderen, am Vorabend des Großen Krieges.
    Mein Vater hat mir in die Augen gesehen, wie um sich zu vergewissern, dass ich die Geschichte weiter hören wollte: Es sei die Geschichte unserer Familie, hat er gesagt, bevor er verstummte, die im Guten wie im Bösen mit dem Hügel des Rossarco verbunden sei.
    Eine Weile waren es nur die Zikaden, die mit ihrem lauten Gesang die Stille durchbrachen, sie über die Maßen dehnten. Und dann hörte ich plötzlich ein kummervolles, unerwartetes Flehen, fast eine Bitte um Komplizenschaft, dasauf wer weiß welche Enthüllungen schließen ließ: »Hör zu, mein Sohn, ich weiß, dass es für dich nicht leicht wird, den Finger in unsere Wunden zu legen oder das Glück von damals ohne Bedauern nachzuempfinden, aber du musst die Wahrheit erfahren, bevor ich sterbe und mit mir unsere Geschichte. Eines Tages dann wirst du es sein, der sie seinen Kindern erzählt. Versprichst du mir das?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, ich war überrascht: Mein Vater hatte es stets umgangen, mit mir über die mehr oder weniger dunklen Familienangelegenheiten zu sprechen, immer wenn ich ihn um Aufklärung bat, hatte er sich kurz angebunden und abwehrend gezeigt.
    »Erschrick nicht, es ist nur ... Solange ich lebe, werde ich dir genauere Informationen geben können, und vielleicht bekommt die eine oder andere Wunde Zeit, zu verheilen. Außerdem erinnere ich mich besser an das, was ich als Kind oder Jugendlicher erlebt habe. Bei den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher