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Schattennetz

Schattennetz

Titel: Schattennetz
Autoren: M Bomm
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    Die imposante Klangfülle der Kirchenorgel wollte nicht zu diesem heißen Sommernachmittag passen. In dem 400 Jahre alten gotischen Gotteshaus, das als kleines Abbild des Ulmer Münsters galt, schienen Hitze und Hektik der Fußgängerzone weit weg zu sein. Wenn die schwere Holztür ins Schloss fiel, – was einige Male vorkam, weil die Mesnerin ein Dutzend Sträuße weißer Dahlien aus einem Kombi hereinschaffen musste, – wurde das besonders deutlich: einerseits das geschäftige Treiben, das sich draußen, nur ein paar Schritte entfernt, in der heißen Sonne abspielte, und andererseits die andächtige Abgeschiedenheit der Stadtkirche. Hier war es kühl und dunkel, und es roch nach altem Mobiliar und Putzmittel.
    Wenn Tilmann Stumper in die Tasten der Orgel griff, den Blick fest auf das spärlich beleuchtete Notenblatt gerichtet, dann waren dies jene Momente, in denen er sich völlig in der Musik verlor. Dann konnte er sein Umfeld vergessen und sich als ein großer Organist fühlen. Stumper, ein in Ehren ergrauter Kirchenmusikdirektor, nahm seine Aufgabe so ernst wie kaum ein anderer. Zumindest war er davon überzeugt. Und er ließ sich auch gerne als begnadeter Organist feiern, insbesondere an den hohen christlichen Feiertagen, denen er mit seiner Musik den würdevollen, manchmal auch respektvollen Rahmen verlieh. Stumper, der sein dünn gewordenes, grau meliertes Haar lang und ungekämmt trug, was er als Zeichen seines künstlerischen Schaffens verstanden wissen wollte, war nicht nur für die Stadtkirche dieser Kleinstadt am Fuße der Schwäbischen Alb zuständig, sondern für weitere Evangelische Gotteshäuser innerhalb der Kommune. Er dirigierte Kirchenchöre und engagierte sich auch für ehrenamtliche Gesangsgruppen, wenn diese zu bestimmten Anlässen Musicals inszenierten.
    Jetzt, an diesem sonnigen Julinachmittag, standen ihm trotz der Kühle in der Kirche Schweißperlen auf der faltenreichen Stirn. Seit einer Stunde übte er wie besessen und gönnte sich keine Pause. Nichts konnte ihn von seinem Ziel abbringen.
    Er hatte sich Großes vorgenommen: ›Toccata und Fuge in d-Moll‹, Bachwerkeverzeichnis 565. Nur Musikkenner können ermessen, worum es sich dabei handelt. Eines der bekanntesten Orgelwerke überhaupt, hatte Stumper der alten Mesnerin geduldig erklärt, deren Musikverständnis jedoch kaum erwarten ließ, dass sie das nachvollziehen konnte. Dennoch war ihr bereits vor zwei Wochen, als er sich nach langer Zeit wieder einmal an dieses schwere Bachwerk gewagt hatte, die Dramatik dieser Musik aufgefallen.
    Er übte nun schon zwei Donnerstage an dem zweiteiligen Stück. Er hatte sich fest vorgenommen, es bis Weihnachten wieder perfekt spielen zu können. Bis dahin war es zwar noch eine Weile hin, doch würde er nur einmal pro Woche üben können. Immer donnerstags, wie heute.
    Die mächtigen Orgelpfeifen erfüllten den sakralen Raum, ließen ihn geradezu erbeben, bündelten sich zu einem dramatischen Showdown, als Stumper plötzlich einen Schatten vor sich sah. Abrupt ließ er von den Tasten ab, worauf die letzten Töne mit einem gewaltigen Nachhall wenig virtuos verstummten.
    »Du hier?«, war alles, was der Kirchenmusikdirektor in diesem Moment über die Lippen brachte. Es ärgerte ihn, wenn er aus einer Phase kreativen Schaffens gerissen wurde, noch dazu so unerwartet. Deshalb lehnte er sich zurück und verschränkte demonstrativ die Arme. »Ich schätze es nicht sehr, bei meinen Übungsstunden gestört zu werden.« Die Stimme klang vorwurfsvoll und war so leise, wie es sich in einer Kirche geziemte. Drunten fiel die schwere Eingangstür ins Schloss. Stumper blickte zu dem Mann hoch, der neben dem Orgelpodest stand. Das Gesicht war im Zwielicht der Empore nicht zu erkennen. Stumper jedoch wusste, mit wem er es zu tun hatte. »Ich denke, wir treffen uns heut Abend beim Runden Tisch bei der Dekanin«, fuhr er deshalb unwirsch fort. »Selbstverständlich, Tilmann, aber vielleicht sollten wir beide zuvor etwas besprechen. Inoffiziell, wenn du verstehst, was ich meine.«
    Tilmann Stumper mochte solche Gespräche nicht. Er wandte den Blick von dem dunklen Gesicht und sah über seine Notenhalterung in das Kirchenschiff und zum Chorraum hinunter. Dort hing ein großes Kreuz mit dem sterbenden Jesus. Durch die hohen Spitzbogenfenster, wie sie für den gotischen Stil der Kirche typisch waren, fiel mattes Sonnenlicht auf das filigran geschnitzte Chorgestühl.
    »Ich versteh natürlich, was du meinst«, griff
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