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Der Henker von Paris

Der Henker von Paris

Titel: Der Henker von Paris
Autoren: Claude Cueni
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unschuldig.« Es war nichts übrig geblieben von ihrer Jugend. Sie bewegte sich nach wie vor, als sei sie eine Schönheit, aber die Jugend war aus ihrem Gesicht gewichen. Das fettige Essen in Versailles hatte ihr Gesicht in einen konturenlosen Teig verwandelt, in dem Nase und Mund noch kindlicher erschienen. Die schon damals üppigen Brüste waren noch grösser und massiger geworden und dominierten die ganze Erscheinung. Es war, als wäre dieser Körper nur erschaffen worden, um diesen gigantischen Busen zu tragen.
    Firmin betrat mit einem roten Hemd das Gefängnis. Barre zerrte die Gräfin auf einen Stuhl und kreuzte ihre Arme hinter der Stuhllehne. Blitzschnell band Charles die Handgelenke zusammen. Sie waren ein eingespieltes Team. Jetzt stand Firmin vor ihnen, verloren mit seinem roten Hemd. Charles band die Gräfin erneut los, und nun versuchten sie zu dritt, der hysterischen Frau das rote Hemdüberzuziehen. Schliesslich gab ihr Barre eine schallende Ohrfeige. Sie verstummte augenblicklich und zog das rote Hemd an.
    Die Fahrt zum Schafott dauerte eine Ewigkeit. Mag sein, dass es Charles und seinen Gehilfen nur so vorkam. Gräfin du Barry schrie, tobte und weinte in einem fort. Sie sprang hoch, hielt sich an der Brüstung des Karrens fest und schrie: »Volk von Paris, rette mich, rette mich, ich bin unschuldig!« Sie rüttelte wie verrückt an der Absperrung und schrie so laut, dass ihre Worte noch in den Seitenstrassen zu hören waren. Ihre Stimme war lauter als das Getrampel der Pferde und das Knirschen der Räder. »Rettet mich, Erbarmen, Gnade, rettet mich!« Charles liess sie gewähren. Es wäre eh sinnlos gewesen, sie daran zu hindern. Er wollte vielleicht auch verhindern, dass sie sich auf ihn stürzte und ihn in aller Öffentlichkeit biss und sein Gesicht zerkratzte, wie sie es bei Barre getan hatte. Jetzt brüllte sie aus voller Kehle, so dass sich ihre Stimme überschlug. Sie war schon heiser. Als sie auf die Place de la Révolution einbogen, wäre sie beinahe gestürzt, doch sie hielt sich an der Querlatte des Karrens fest, umschlang das Stück Holz mit beiden Armen und weinte so herzzerreissend, dass das Gejohle der Menge allmählich verstummte. Das war neu, dass jemand derart um sein Leben schrie. Das wollte man nicht hören. Das wollte man nicht sehen. Viele Menschen verliessen verärgert die Hinrichtungsstätte.
    Die Gräfin wollte den Karren nicht verlassen. Firmin und Barre rissen ihre Hände von der Brüstung los und zerrten sie aus dem Wagen. Sie schlug derart kräftig um sich, dass sie ständig den einen oder anderen Arm befreite undHoffnung schöpfte. Als sie sich beinahe losgerissen hatte, warf Firmin sie zu Boden. Barre wollte ihre Beine packen, doch sie schlug wie ein Pferd aus und traf ihn mehrmals im Gesicht, wobei er zwei Zähne verlor. Nun eilten Henri und Gros den beiden zu Hilfe und trugen die Gräfin zur Treppe des Schafotts. Dort stand Charles mit stoischer Miene. »Gnade, Monsieur de Paris, noch einen ganz kleinen Augenblick«, flehte sie. Die Gehilfen schauten kurz zu Charles. Er schüttelte unbeirrt und ruhig den Kopf, ohne sie anzusehen.
    Jetzt hörte man Protestrufe aus dem Publikum. Den Leuten missfiel dieses Spektakel. »Lasst sie doch in Ruhe«, schrien einige. Das war neu. Es war kaum zu fassen, aber das Volk hatte endlich die Nase gestrichen voll von all diesen Hinrichtungen. Die Pariser empfanden so etwas wie Mitgefühl. Die wenigsten hatten wohl Bücher von Voltaire, Montesquieu und Rousseau gelesen, aber die Zeit war reif dafür. Das Individuum hatte an Bedeutung gewonnen. Das Schicksal anderer war dem Volk weniger gleichgültig. Wenn das Volk von Anfang an so reagiert hätte, wäre es unmöglich gewesen, so viele Menschen hinzurichten, dachte Charles. Ist man frei von Schuld, wenn man in der Vergangenheit Gräueltaten duldete, die dem Gesetz entsprachen?
    Am 5. April 1794 war Danton an der Reihe. »Zeig meinen Kopf dem Volk. Er ist es wert«, sagte er zu Charles, bevor er die Treppe hochstieg. Dann hatte er doch noch Tränen in den Augen, weil er an seine Frau und seine Kinder dachte. Charles folgte ihm nicht. Er blieb unten stehen und gab Henri das Zeichen, die Sperre zu lösen. Das schwere Fallbeilsauste herunter. Und der Kopf gehörte für eine halbe Stunde der verrückten Marie, die bald François Tussaud heiraten sollte und fortan für alle nur noch Madame Tussaud hiess.
    Antoine Fouquier übergab Charles immer längere Listen von Verurteilten. Zum Teil standen
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