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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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senkt vertraulich die Stimme und beugt sich ein Stück über den Schreibtisch, damit die Frau ihn noch verstehen kann. »Sie müssen sich das so vorstellen: Gott hat hier alles geschaffen, also das ganze Imperium aufgebaut, aber mittlerweile kümmert Er sich hauptsächlich um die Verwaltung. Und um den Chor der Engel, das ist sein Hobby. Der Heilige Geist vermittelt zwischen dem Himmel und der Schöpfung, ein ziemlich anstrengender Job übrigens. Und ich selbst bin für den theoretischen Überbau verantwortlich, also alles, was das Zusammenleben der Kreaturen betrifft. Spielregeln, Gebrauchsanweisungen, Pipapo. Meine Beschlüsse segnet Gott ab, dann werden sie vom Heiligen Geist weitergetragen – und der sorgt auch dafür, dass es mit der Umsetzung klappt. Ganz diplomatisch natürlich.

    Und weil sich nun mal alles, was lebt, ständig verändert, muss ich meine Konzeptionen immer wieder neu überarbeiten. Da kann es schon mal passieren, dass man ein Projekt eine Zeit lang aus den Augen verliert, wie es übrigens gerade mit Ihrem Planeten der Fall war. Das ist auch der Grund, weshalb Sie heute mit mir vorlieb nehmen müssen. Mein Vater ist nämlich auf die Erde gereist, um sich ein Bild vom Zustand des Planeten zu machen. Ich vertrete ihn hier so lange. Die Menschen sind aber auch gar nicht so einfach zu bändigen, wenn ich das mal so sagen darf.« Jesus zwinkert der Frau zu und nimmt dabei bestürzt wahr, dass sie nur noch schemenhaft zu erkennen ist. »Oh entschuldigen Sie bitte! Ich habe Sie doch hoffentlich nicht gelangweilt?« Die Frau, die keine mehr ist, haucht ein verzweifeltes »Bitte!«, und Jesus gibt sich endlich einen Ruck. »Wissen Sie was, wir machen das jetzt mal ganz unbürokratisch.« Er zieht ein leeres Blatt aus einem der Stapel und zückt den Kugelschreiber. »Wie, sagten Sie noch, war Ihr Name?« Er hat Mühe, das Wispern zu verstehen. Dann schreibt er auf das Blatt: Saraniecka, Katharina; geb. 1924 nach mir; Planet Erde, fügt das Datum ihrer Ankunft hinzu und zeichnet das Ganze ab. Mit einem erleichterten Seufzer löst sich der letzte Rest der Gestalt vor ihm in Luft auf, und die frei gewordene Seele geht ihren Weg. Jesus atmet tief durch. »Der Nächste, bitte!«
    So geht das pausenlos. Jesus füllt Seite um Seite, sortiert nach Planeten, heftet die Blätter ab und gähnt verstohlen hinter der Hand. Er fragt sich, wann um Himmels willen sein Vater wohl endlich von seiner Dienstreise zurückkommt und die Arbeit wieder selbst übernimmt.



9

    G ott erwacht mit steifen Gliedern und einem unangenehmen Gefühl im Kopf. Seine erste Nacht auf der Erde ist fürchterlich gewesen. Kaum war Er in der U-Bahn-Station eingeschlafen, als ihn eine Horde Jugendlicher unsanft weckte. Sie pöbelten herum und spuckten ihn an. Wer weiß, was sonst noch passiert wäre … Aber zum Glück kam die Bahn, und die Raufbolde fuhren weiter. Gott saß noch eine Weile benommen auf der Bank und grübelte, ob Er sich wieder hinlegen oder weiterziehen sollte. Die Entscheidung nahm ihm dann ein Wachmann mit Hund ab. Den Rest der Nacht befand Gott sich auf der Suche nach einem passablen Schlafplatz. Irgendwann am frühen Morgen nickte Er neben einem Altpapiercontainer auf dem Stapel Pappkartons ein, von dem Er sich jetzt emporhievt. Äußerst unangenehm war das alles. ›Ich hätte es natürlich auch einfacher haben können‹, sagt Er zu sich selbst, während Er Erwins Glieder streckt. Wozu ist man denn allmächtig? Aber Er wollte nun mal als Mensch unter Menschen Erkenntnisse über das Leben sammeln. Als Erwin eben. Und dabei, denkt Gott stolz, habe ich nun immerhin schon ein bisschen was gelernt. Er klopft den Dreck von Erwins Hosen, macht ein paar ungelenke Kniebeugen, um wieder in Schwung zu kommen, rollt den Schlafsack zusammen und geht los, seinem zweiten Tag auf der Erde entgegen.
    Die alte Frau, die im Vorraum der öffentlichen Toilette auf einem Plastikstuhl sitzt, blickt kaum auf, als Er zur Tür hereinkommt. »Einen schönen guten Morgen«, wünscht Gott freundlich, und für einen Augenblick huscht so etwas wie ein Lächeln über ihr graues Gesicht. Die Chance auf ein Gespräch witternd, fährt Er fort: »Wie geht es Ihnen?« Die Frau seufzt, erhebt sich schwerfällig, wobei sie eine Hand in den Rücken stützt, und murmelt: »Es muss ja.« Aus der Tasche ihrer Kittelschürze zieht sie ein paar gelbe Gummihandschuhe, streift sie mit geübtem Griff über und verschwindet hinter der Tür der Damentoilette.
    Gott
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