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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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Wohlgefühl in seinem vollen Bauch richtig genießen. Eine warme, schwere Müdigkeit kriecht ihm in die Glieder. Das Essen, der Alkohol, die Aufregung … Gott legt sich der Länge nach auf die Bank, schiebt Erwins Schlafsack unter den Kopf, und die Augen fallen ihm zu.



6

    A ls Gott erwacht, wird es bereits dunkel. Sein Traum, in dem die Eindrücke des Tages noch ein mal vor seinem inneren Auge vorbeizogen, hält ihn noch gefangen. Er versucht, sich zu erinnern – was wollte Er eigentlich hier auf Erden? Dann fällt ihm der Bericht wieder ein. Mit schlechtem Gewissen muss Er sich eingestehen, dass schon fast ein ganzer Tag auf der Erde verstrichen ist, ohne dass Er mit seiner Arbeit richtig begonnen hat. Gott schüttelt den Kopf über die eigene Unzulänglichkeit und erhebt sich mit einem Ruck von der Bank.
    Doch ehe Er loslegen kann, ist noch ein drängendes Problem zu lösen. Gott stellt sich hinter einen Baum, wie Er es bei Erwins Artgenossen beobachtet hat, und leert die Blase. Sooo. Schütteln, fertig. An die Arbeit!
    Sein Herumwandern am Rheinufer hat Gott ganz in die Nähe des Kölner Doms verschlagen. Auf der Domplatte, dem Vorplatz der Kathedrale, wimmelt es vor Menschen. Eine Gruppe japanischer Touristen mit gezückten Kameras droht ihn über den Haufen zu rennen. Im letzten Moment teilt sich der Schwarm, und Gott ist für einige Sekunden umzingelt. Ein buntes Stimmengewirr, das Er so schnell gar nicht identifizieren kann, tönt in seinen Ohren, dann schließt sich die Gruppe wieder hinter ihm und zieht weiter.
    Als Gott die Kirche betritt, bleibt Er wie angewurzelt stehen. Was für ein erhabenes Gebäude! Ihm wird ganz feierlich zumute. Das wurde alles für mich gebaut!, denkt Er voller Stolz und strahlt dabei über Erwins ganzes Gesicht.
    Die Würde, die das Bauwerk ausstrahlt, überträgt sich offenbar auch auf die anderen Besucher, denn sie mäßigen ihre Schritte und senken die Stimmen. Gott schlendert durch das Mittelschiff der Kathedrale. Hier und da bleibt Er stehen, um eines der zahlreichen Kunstwerke zu betrachten, die den Innenraum schmücken. Es verwundert ihn, dass sie allesamt Szenen aus längst vergangenen Zeiten darstellen – vor allem aus der Zeit, als sein Sohn Jesus auf der Erde weilte. Das ist eine Episode, an die Er sich nicht allzu gern erinnert. Warum halten die Menschen so an der Vergangenheit fest? Ist seither etwa nichts auf der Welt passiert, das es wert wäre, abgebildet zu werden? Bevor Gott über diesen Gedanken ins Grübeln gerät, erinnert Er sich an seine Aufgabe. Wo sollte es besser möglich sein, das Gespräch mit den Menschen zu suchen, als hier, in seinem Haus? Zielstrebig hält Er auf ein Ehepaar mittleren Alters zu, das gerade in die Betrachtung eines goldenen Sarkophags versunken ist. »Entschuldigen Sie, sind Sie vielleicht auf der Suche nach Gott?« Er deutet eine kleine Verbeugung an: »Bitte sehr, da bin ich!« Erwartungsvoll lächelt Er, aber der Mann und die Frau haben nur einen entgeisterten Blick für ihn übrig, ehe sie sich abwenden und mit raschen Schritten davoneilen. Fest entschlossen, sich so schnell nicht verunsichern zu lassen, versucht Gott, andere Kirchgänger anzusprechen. Die ignorieren ihn jedoch ebenfalls. Sie sehen gar nicht zu ihm hin, wenn Er »Meine Dame!«, »Mein Herr!«, »Entschuldigen Sie bitte …«, »Nur eine Minute!« sagt. Allmählich wird Er wütend. Da fallen sie zu Tausenden in sein Haus ein, erfreuen sich an der Schönheit und Herrlichkeit des Gebäudes, aber mit ihm reden, jetzt, wo es einmal die Gelegenheit dazu gäbe, will keiner.
    Plötzlich kommt ein Mann auf Gott zu. Er trägt ein langes Gewand und sieht etwas angespannt aus. Als er mit Gott auf einer Höhe ist, beginnt er zu schimpfen: »Was fällt dir ein, die Leute hier zu belästigen? Mach gefälligst, dass du rauskommst, du Spinner, sonst rufe ich die Polizei!« Der Mann weist unmissverständlich zur Tür, und Gott verlässt wutschnaubend den Dom.



7

    N eben dem Dom ist ein Weihnachtsmarkt aufgebaut. Gott, der nach dem frustrierenden Erlebnis in der Kathedrale eine kleine Aufmunterung nötig hat, drängt sich in die Menschenmenge und lässt sich zwischen den kleinen beleuchteten Buden treiben. Schön sieht das aus, die vielen Lichter und der glitzernde Schmuck! Es duftet nach Bratäpfeln, gebrannten Mandeln und Glühwein. Gott wird schon wieder hungrig.
    An einem Stand mit kleinen bemalten Tonfiguren bleibt Er stehen. Die Figuren sehen aus wie pummelige
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