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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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Ambiente passen. Jetzt gewahrt Er auch die misstrauischen Blicke der Verkäuferinnen in seinem Rücken, die ihn beobachten und sich gegenseitig Zeichen machen. Gott fühlt sich sehr unbehaglich. Mit hängenden Schultern und eingezogenem Kopf wendet Er sich zum Gehen. Wieso darf ich nicht da sein, wo es warm und schön ist? Überall werde ich vertrieben!, denkt Er. Am liebsten würde Er sich auf der Stelle in Luft auflösen, und Tränen des Selbstmitleids steigen ihm in die Augen. Er schluckt – doch dann wird Er wütend: Das ist doch nicht fair! … So schnell lasse ich mich nicht unterkriegen. Der Weg zum Ausgang führt an der Drogerieabteilung vorbei, und kurz entschlossen tritt Gott zwischen die Regale. Er kämmt Erwins Schopf mit einer der herumliegenden Haarbürsten und gönnt sich eine Brise Eau de Toilette aus einer »Tester«-Flasche. Jetzt fühlt Er sich besser. Er strafft die Schultern und tritt stolz erhobenen Hauptes auf die Straße hinaus.



11

    A uf der Straße vor dem Kaufhaus tummeln sich mittlerweile die Konsumenten auf der Suche nach Weihnachtsgeschenken. Sie hetzen von Geschäft zu Geschäft. Gott schlendert zwischen den vielen Menschen umher und überlegt, wie Er es anstellen soll, mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Ein paar Mal hat Er es bereits versucht, aber niemand ist stehen geblieben. Gott kommt sich ziemlich verlassen vor.
    Mitten in der Fußgängerzone steht ein seltsamer Brunnen ohne Wasser. Eine Säule, die von kleinen Steinquadern umgeben ist. Auf einem davon nimmt Gott Platz. Die Säule erinnert ihn an ein männliches Geschlechtsorgan im aktionsfähigen Zustand, und dieser Gedanke muntert ihn auf. Ihm fällt wieder ein, wie lange Er sich damals den Kopf darüber zerbrochen hat, welche Art der Fortpflanzung Er den Menschen zugedenken sollte, und Er ist ziemlich zufrieden mit seiner Lösung. Ein Schlauch wird zum Rohr, ein flacher Bauch wird zur Kugel, und dann ist der Nachwuchs da. Ganz einfach. Ist doch eine tolle Idee, oder? Just in diesem Moment geht eine hochschwangere Frau vorbei. Gott strahlt sie an, aber sie wirft ihm nur einen missmutigen Blick aus verquollenen Augen zu und schleppt ihren schweren Leib weiter. Na gut, das mit den neun Monaten wäre vielleicht noch verbesserungsfähig, gesteht Gott sich ein.
    Ein Stück entfernt entdeckt Er einen Mann, der vor einer Hausfassade steht und einen kleinen Stapel Zeitschriften in der Hand hält. Neben ihm lehnt ein Plakat aus Pappe an der Wand, »Gott ist unter uns« steht darauf. Als Gott dies liest, wird ihm heiß und kalt. Hat man ihn etwa entdeckt? Er blickt sich um, aber niemand scheint von ihm Notiz zu nehmen. Mutig tritt Er auf den Mann zu, der ihn freundlich anlächelt und ihm eines der Hefte entgegenstreckt: »Nehmen Sie nur, das ist kostenlos. Gott kann auch Sie retten, es ist noch nicht zu spät!« Verwundert schlägt Gott die Broschüre auf. In bunten Illustrationen sind die Gefahren eines Lebens dargestellt, das nicht nach den »Geboten Gottes« ausgerichtet ist. Demgegenüber werden denjenigen Menschen, die sich an die Vorschriften halten, schöne Versprechungen gemacht. Gott liest alles sehr aufmerksam durch. Er ist erstaunt über das, was da in seinem Namen propagiert wird. Sicher, einiges davon erinnert an die Spielregeln, die sein Sohn irgendwann für die Menschheit entworfen hat.
    Aber es ist doch alles sehr verdreht wiedergegeben und gewiss nicht mehr zeitgemäß. Damit muss Jesus sich wirklich noch mal ordentlich beschäftigen, du meine Güte!, denkt Gott und schüttelt den Kopf. Kein Wunder, dass die vorbeieilenden Passanten für den Mann mit den Broschüren nur spöttische Blicke übrig haben. Gott empfindet Mitleid mit ihm. »Verzeihung«, sagt er, »aber hier wimmelt es nur so von Fehlern und Missverständnissen!« Er zeigt auf das Heft. »Vielleicht kann ich Ihnen das eben mal erläutern …« Der Mann lächelt Gott weiterhin milde an und wiederholt, dass Gott auch ihn retten könne, es sei noch nicht zu spät. So geht das eine ganze Weile. Die Erklärungen perlen an dem Mann ab wie Regentropfen an einer Glasscheibe. Gott wird allmählich ärgerlich, und schließlich brüllt Er sein Gegenüber an: »Ich verbiete Ihnen, in meinem, äh, in Gottes Namen solchen Unsinn zu verbreiten!« Einige Passanten bleiben stehen und bilden einen Halbkreis um die beiden. Gott spürt, wie ihm vor Wut das Blut in Erwins Kopf steigt. Jeder seiner Muskeln ist angespannt, doch sein Kontrahent steht völlig unbeeindruckt da.
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