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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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Während Er die Neuankömmlinge abfertigt und zwischendurch den nächsten Termin für die Chorprobe der Engel festlegt, spürt er ein wenig dem Schwindelgefühl nach, dass die Reise in ihm hinterlassen hat. Da fällt ihm plötzlich etwas ein. Er entschuldigt sich bei den Wartenden und macht sich auf die Suche nach seinem Sohn.
    Gedankenverloren steht Jesus vor dem Himmelstor und kickt kleine Planetenteilchen in die Weiten des Alls zurück. Er grübelt nach über das, was er in den Zeitungen gelesen hat. Wie konnte es mit der Erde nur so weit kommen?, denkt er erschüttert. Ein Räuspern lässt ihn aufschrecken. Er dreht sich um und steht seinem Vater gegenüber. Der sieht ihn scharf an: »Du wirst ganz schön zu tun haben, um das mit der Erde wieder in den Griff zu kriegen, was?« Jesus senkt den Blick auf seine Füße. »Ist es wirklich so schlimm da unten?«, fragt er leise. Gott zögert einen Moment. »Ja. Und auch nein. Das ist schwer zu sagen. Ich habe einige schreckliche Dinge gesehen. Aber andererseits gibt es auf der Erde auch Schönheit, Liebe, Freude und Mitgefühl. Du kennst die Menschen, du warst schließlich selbst dort.« Jesus nickt stumm, und Gott drückt ihm sanft die Schulter: »Weißt du, ich finde schon, dass es sich lohnen würde, dort noch mal richtig aufzuräumen. Wenn die Menschen endlich kapieren, wie sie sich auf der Erde zu verhalten haben – dann könnte es wirklich phantastisch laufen! Natürlich ist das jetzt erst mal viel Arbeit, und wahrscheinlich müssen wir auch wieder einige Fehlschläge einstecken, aber es lohnt sich bestimmt. Ja, ich bin wirklich überzeugt: Es lohnt sich!« Jesus wirkt noch immer skeptisch, aber Gott ist jetzt richtig in Fahrt: »Du schaffst das, mein Junge. Da bin ich ganz sicher!« Zögerlich hebt Jesus den Kopf und blickt in das enthusiastische Antlitz seines Vaters. Dann nickt er, und ein tapferes Lächeln erhellt sein Gesicht. »Ja. Ich werde das irgendwie wieder zurechtbiegen.« Gott verharrt einen Moment und lässt seinen Blick in die Ferne schweifen. Dann räuspert Er sich. »Was ich übrigens noch sagen wollte … ähm … ich glaube, ich war ein bisschen ungerecht zu dir. Wegen der Geschichte auf der Erde, damals. Also, ich habe dieses Leben ja nun sozusagen am eigenen Leib erfahren, und daher weiß ich, dass es nicht leicht ist, sich da unten immer korrekt zu benehmen.« Jesus legt den Kopf schräg und betrachtet seinen Vater mit einer Mischung aus Neugierde und Amüsement: »So?« Gottes Aura verfärbt sich zartrosa. »Wie auch immer, ich wollte mich bei dir entschuldigen. Ach ja, und noch etwas: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Junge!« Einen Moment lang stehen sie sich regungslos gegenüber. Dann breitet Gott alle Arme aus, und Jesus, den Tränen der Rührung nahe, stürzt sich hinein und lässt sich von seinem Vater umfangen.

    PS. Es ist der Morgen des vierundzwanzigsten Dezember, das »Fest der Liebe« steht vor der Tür. Erwin und Rita eilen durch die Regalreihen eines Supermarktes und kaufen ein, was die anderen für sie übrig gelassen haben. Auch einen kleinen Weihnachtsbaum können sie noch ergattern, ehe die Geschäfte schließen. Danach stehen sie in der Küche und bereiten das Festmahl vor. Während der Gänsebraten im Ofen brutzelt, putzen sie zusammen die Kneipe auf Hochglanz und stellen dort das Bäumchen auf. Dann trennen sie sich schweren Herzens für ein paar Stunden. Rita holt den staubigen Karton mit den Christbaumkugeln vom Dachboden und macht sich daran, das Bäumchen zu schmücken.
    Erwin begibt sich unterdessen auf die Suche nach seinen Freunden, um sie zur Weihnachtsfeier einzuladen. Die staunen nicht schlecht, als er geduscht, frisch rasiert und in schicken Klamotten vor ihnen steht. »Wie aus’m Katalog«, findet Maria. Dass die Kleider früher Ritas Ex-Mann gehört haben, macht Erwin nichts aus.
    Auch Rita hat unterdessen ein paar einsame Seelen eingeladen, die sowieso jeden Tag bei ihr an der Theke PS .
    sitzen. So findet sich am Heiligen Abend eine gemischte Gruppe in der Kneipe ein. Auf Erwins Seite sind es neben der Zeitungsfrau Maria der hinkende Kalle, der fünfzehnjährige Fiets und ein alter Mann, den alle nur als »den Einäugigen« kennen. Ritas Gäste sind Herr Reinhold, ein einsamer Rentner, Thomas von nebenan, dem vor kurzem die Frau weggelaufen ist, die polnische Putzfrau Agnieszka mit dem furchtbaren Heimweh und Rosie, eine Säuferin, die gerne von der guten alten Zeit schwärmt.
    Alle freuen
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