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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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wurde, in zwei Teile, tunkt es ein und beißt ab. Aah, köstlich! Maria kommt von der Toilette zurück und setzt sich neben ihn. »Mahlzeit!« Gott nickt ihr zu. Er ist so sehr mit dem Essen beschäftigt, dass Er gar nichts sagen kann. Aber Er fühlt sich wohl in Marias Nähe. Trotz ihrer rauen Schale spürt Er, dass sie der herzlichste Mensch ist, dem Er bisher auf der Erde begegnet ist. Innerlich dankt Er ihr für ihre Freundschaft und dafür, dass sie ihn an diesen Ort geführt hat.
    Während Gott aus dem Augenwinkel beobachtet, wie Maria genussvoll ihre Suppe isst, beschließt Er, dass sie ab dem nächsten Jahr mehr Glück im Leben haben soll. Dann stellt Er sich bei den Soldatinnen der Heilsarmee für einen Nachschlag an und bekommt ein kleines, in Plastik eingeschweißtes Stück Kuchen dazu, »weil bald Weihnachten ist«.
    Gott betrachtet die Männer und Frauen, die auf den Holzbänken sitzen und ihr Mittagessen einnehmen. Viele sind es, alte und junge. Manche sehen sehr heruntergekommen aus, bei anderen hingegen würde man gar nicht vermuten, dass sie auf der Straße leben. Er möchte diesen Menschen gern helfen, aber Er weiß, dass Wunder lediglich das Leben einiger weniger verbessern, und das vielleicht bloß für kurze Zeit. Wirklich nützen würde nur eine Veränderung der Verhältnisse auf Erden, davon ist Er überzeugt. Ich werde Jesus alles genau berichten, und dann soll er sich darum kümmern!, denkt Gott. Trotzdem plagt ihn wegen seiner Untätigkeit ein schlechtes Gewissen.
    Ein alter Mann hinkt am Tisch vorbei. Seine halb erfrorenen Zehen lugen aus löchrigen Schuhen hervor. Bei jedem Schritt stöhnt der Alte leise. Bei diesem Anblick kann Gott nicht anders – Er ignoriert seinen Vorsatz und beschließt, dass dem Mann in der folgenden Nacht eine Blitzheilung widerfahren soll.
    Mittlerweile ist der Teller leer gegessen. Mit der angefeuchteten Spitze seines Zeigefingers liest Gott die letzten Kuchenkrümel auf und schiebt sie in Erwins Mund. Er ist so satt, dass Er bereits den obersten Hosenknopf lösen musste, um dem vollen Bauch Platz zu verschaffen. Das Einzige, was ihm jetzt noch zu seinem Glück fehlt, ist ein gemütlicher Sessel – wie der bei ihm zu Hause im Himmel. Da könnte Er sich jetzt schön zurücklehnen und ein kleines Nickerchen halten.
    Maria sieht ebenfalls sehr zufrieden aus. Hinter vorgehaltener Hand gähnt sie herzhaft. Gott räuspert sich. »Maria, um auf unser Gespräch von eben zurückzukommen – deine Meinung ist mir wirklich wichtig!« Maria reagiert zuerst nicht, sodass Er schon denkt, sie habe ihn nicht gehört. Dann dreht sie sich doch zu ihm um, und ihr Gesicht wirkt plötzlich wie versteinert. »Hör zu, Alter«, erklärt sie eindringlich. »Du weißt genau, wie das Leben ist. Bist schließlich lange genug auf der Straße. Ich schlage mich durch, wie wir alle. Und ich habe wirklich keinen Bock, mir irgendeinen philosophischen Scheiß anzuhören. Da kann ich mir ja gleich ’nen Strick nehmen! Jetzt habe ich was gegessen, jetzt geht es mir gut. Später geht es mir dann vielleicht nicht so gut, und so ist das eben. Basta. Wenn du wissen willst, was in der Welt passiert, dann lies halt die Zeitung, Alter. Und zwar nicht nur die hier!« Sie zieht ein Exemplar des Blattes, das sie verkauft, aus der Tasche und reicht es Gott. »Kannst du behalten. Ist mein Weihnachtsgeschenk.« Dann steht sie abrupt auf und geht. Gott sieht ihr nach und kratzt sich am Kopf. Zeitungen lesen – natürlich! Schließlich steht dort alles, was auf der Welt passiert, und das ist genau das, was Er für seinen Bericht braucht!



14

    D raußen hat es angefangen zu schneien. Gott tritt aus dem Domizil der Heilsarmee heraus und legt den Kopf in den Nacken, um das Gewimmel der winzigen Flocken auf sich zu fliegen zu sehen. Er fühlt ein leichtes Prickeln auf Erwins Gesicht, wenn die Flöckchen dort landen. Um ihn herum sieht alles aus wie gepudert. Eine dünne weiße Schicht bedeckt die parkenden Autos, die Straße, den Gehweg. Kaum ein Laut ist zu hören, als hätte die Ruhe und Bedächtigkeit, mit der der Schnee auf die Erde rieselt, auch die Stadt zum Stillstand gebracht. Plötzlich braust ein Auto vorbei und durchpflügt die weiße Fläche mit zwei nassen, dunklen Streifen. Als wäre ein Zauber gebrochen, hört man gleich darauf eine laut schimpfende Männerstimme, Hundegebell und ein Martinshorn in der Ferne. Gott reibt das Wasser von Erwins Gesicht und geht langsam die Straße entlang. Er hat
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