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Der heilige Erwin

Der heilige Erwin

Titel: Der heilige Erwin
Autoren: Jasna Mittler
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uns geführt?« Gott rappelt sich auf. Der Beamte sieht einigermaßen nett aus. Vielleicht ist das eine Chance? Aber diesmal muss Er aufpassen, was Er sagt, denn offensichtlich mögen die Menschen die Wahrheit nicht besonders. Er räuspert sich. »Also das mit dem Bus, das tut mir leid. Ich hatte mich nur kurz hingesetzt, um mein Geld zu suchen …« – »Und weil du ein bisschen viel getrunken hattest, bist du darüber eingeschlafen, nicht wahr? So wie beim letzten Mal vielleicht?« Gott nickt zögerlich. Der Polizist seufzt. »Erwin, was sollen wir denn mit dir machen? Früher oder später landest du immer wieder hier.« Zur Bekräftigung macht er eine Handbewegung, die in die Zelle weist. Gott blickt schuldbewusst zu Boden. »Es soll nicht mehr vorkommen, ehrlich«, flüstert Er. Aber der Beamte ist noch nicht fertig: »Ich habe dir schon einiges durchgehen lassen, Erwin. Das weißt du. Aber irgendwann ist Schluss.« Der Polizist blickt in das ängstliche Gesicht des Gefangenen, lässt ihn ein wenig zappeln. Dann seufzt er nochmals. »Also gut, dieses eine Mal noch werde ich ein Auge zudrücken. Aber dass du mir nicht gleich das nächste Ding drehst, klar?« Gott springt erleichtert von der Liege auf und bedankt sich überschwänglich. Er bekommt seine Besitztümer ausgehändigt: Erwins Schlafsack, die zwei Zeitungen und den Knopf, der in Erwins Tasche steckte. Dann tritt Er als freier Mann wieder auf die Straße hinaus.



17

    V or der Polizeiwache zögert Gott. Rechts oder links? Egal, bloß weg hier. Schnellen Schrittes geht Er bis zur nächsten Kreuzung. Dort entdeckt Er ein kleines Schild mit einem Fahrrad und zwei Pfeilen darauf; unter dem einen Pfeil steht »Rhein«, unter dem anderen »Zentrum«. Zentrum, das klingt nach Menschen. Also folgt Gott diesem Weg, bis Er sich wieder den Einkaufsstraßen nähert. Die ersten Geschäfte werden gerade geöffnet. Gott biegt um die Ecke eines Kaufhauses – und befindet sich plötzlich mitten im Wald. Mitten in der Fußgängerzone stehen, fein säuberlich aufgereiht, mindestens fünfzig Nadelbäume, einer neben dem anderen. Das Geäst ist mit Netzen zusammengebunden, sodass die Bäume aussehen, als seien sie gefesselt. Gott stellt mit Schaudern fest, dass alle Bäume tot sind – jemand hat sie unten abgesägt. Vor dem Wald geht ein Mann in dicker Winterjacke auf und ab. Als er Gott entdeckt, kommt er mit einem aufmunternden Lächeln auf ihn zu. »Na, schon ein Prachtexemplar ausgesucht?«, ruft er durch die Bäume hindurch. Gott schüttelt zaghaft den Kopf. Der Verkäufer stutzt und wirft einen kritischen Blick auf Erwins Kleidung. Schlagartig weicht das Lächeln von seinem Gesicht. »Na dann zieh Leine«, stößt er zwischen den Zähnen hervor, bevor er sich umdreht und weiter die Grenzen seines kleinen Waldes abschreitet.
    Gott beeilt sich wegzukommen und dringt dabei tiefer in die Fußgängerzone vor. Nach der Nacht auf dem Polizeirevier fühlt er sich müde, und Erwins Magen macht sich wieder einmal bemerkbar. Jeden Tag dasselbe. An einer Sitzbank macht Gott Rast. Bevor Er sich jedoch niederlassen kann, muss Er ein paar Fast-Food-Verpackungen von der Sitzfläche räumen. Weiße Plastikteller, mit Alufolie abgedeckt. Einer der Teller fühlt sich schwerer an als die anderen. Verstohlen klappt Gott die Folie hoch, und tatsächlich, darin liegen ein paar gebratene Kartoffelstücke und ein Rest Fleisch in weißer Soße. Gott blickt sich um, und als Er sicher ist, dass ihn niemand beobachtet, schaufelt Er die Stückchen in sich hinein. Die Kartoffeln sind matschig, und die Soße brennt scharf auf Erwins Zunge. Aber jetzt hat Er wenigstens etwas im Magen. Die nun wirklich leere Verpackung quetscht Er in einen vollen Mülleimer, der neben der Bank steht. Der Müll quillt schon über den Rand, und zwischen Coladosen, Bananenschalen und einem kaputten Regenschirm entdeckt Gott eine zusammengefaltete Zeitung. Er erinnert sich an Marias Worte – wenn Er wissen will, was in der Welt passiert, muss Er Zeitung lesen! – und zieht sie vorsichtig aus dem Unrat. Er streicht das feuchte Papier glatt. Die Ausgabe stammt vom vergangenen Tag, aber das macht nichts. Auf der ersten Seite ist ein großer Fettfleck, außerdem prangt dort das Wort »EXPRESS« . Gott beginnt zu lesen, über Köln, über Fernsehstars – was immer das ist –, über schwarz weiß gefleckte Bälle und ein bisschen etwas über die Welt. Merkwürdig ist das alles, sehr merkwürdig. Er steckt das Blatt in
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