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Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Titel: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Autoren: Herfried Münkler
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verlassen, die Schlossbrücke in Richtung Unter den Linden überquert, sich mit seinem Trupp vor dem Zeughaus aufgestellt und dann nach einem kurzen Trommelwirbel die Kriegsgefahr verkündet. Die Menge applaudierte und sang patriotische Lieder. Zweieinhalb Stunden später zeigte sich der Kaiser auf dem Schlossbalkon und hielt eine kurze Ansprache: Er hoffe auf Frieden, sei aber auch bereit, seine und Deutschlands Ehre notfalls mit der Waffe zu verteidigen. Damit traf er offenbar den richtigen Ton. Die bewegte Menschenmenge stimmte die Kaiserhymne
Heil Dir im Siegerkranz
an.
    Nun, am 1 . August, war die Menschenmenge, die sich vor dem Schloss versammelte, noch größer als die vom Vortag. In übereinstimmenden Presseberichten wird sie auf mehrere Hunderttausend Menschen geschätzt. Eine große Spannung lag in der Luft. Immer wieder stimmten Einzelne oder kleine Gruppen Lieder an, die von den Umstehenden mitgesungen wurden, um dann wellenförmig um sich zu greifen, bis sie allmählich wieder verklangen. Aber schon brandeten in der Menge an anderer Stelle neue Gesänge auf, und so ging es hin und her. Man sang, um der inneren Anspannung Herr zu werden, außerdem verschaffte das gemeinsame Singen ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Stärke. Die Menschen machten sich Mut für das, was der Tag noch bringen würde. Sie wollten dabei sein, wenn sich das gewohnte Leben grundlegend verändern sollte. Und je länger die Menge wartete, desto stärker wurde das Bedürfnis nach einer Sensation: Man wartete nicht mehr auf die Erhaltung des Friedens, sondern auf die Erklärung des Krieges. Den Zustand drohender Kriegsgefahr aufzuheben, hätte die Menschen enttäuscht, die Generalmobilmachung zu verkünden, versprach hingegen eine Erlösung von der unerträglichen Anspannung.
    Gegen halb sechs Uhr abends verließen mehrere Stabsoffiziere in einem Fahrzeug das Schloss und riefen der Menge zu, die Generalmobilmachung sei beschlossen. Die Nachricht ging von Mund zu Mund, und schließlich stimmten alle das Lied
Nun danket alle Gott
an, das zu einer preußischen Hymne geworden war, seitdem es die preußische Armee 1757 auf dem Schlachtfeld von Leuthen nach dem Sieg über die österreichischen Truppen gesungen hatte. Extrablätter verbreiteten die Erklärung der Generalmobilmachung in den großen Städten, und in den Kleinstädten und Dörfern läuteten die Glocken, um die Nachricht vom bevorstehenden Krieg zu verkünden. In Berlin veranstalteten Schüler und Studenten Umzüge, und in den überfüllten Cafés wurden enthusiastische Reden gehalten und patriotische Lieder gesungen. Später am Abend erschien Kaiser Wilhelm auf dem Schlossbalkon und richtete das Wort an die Menge: «Aus tiefem Herzen danke ich Euch für den Ausdruck Eurer Liebe, Eurer Treue. In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volk keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche, und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewendet haben sollte, ich verzeihe ihnen allen. Es handelt sich jetzt nur darum, daß wir alle wie Brüder zusammenstehen, und dann wird dem deutschen Schwert Gott zum Siege verhelfen.» [184]
    Am 1 . August 1914 hat sich vor dem Berliner Schloss eine große Menschenmenge versammelt, die gespannt auf die neuesten Nachrichten wartet. Die Sommerhüte, die das Bild bestimmen, weisen auf Angehörige der bürgerlichen Mittelschicht hin; unter den vielen Männern befinden sich nur wenige Frauen. Vom Balkon des Schlosses aus (auf dem Bild mit einem Kreuz markiert) erklärt Kaiser Wilhelm, er kenne jetzt, da der Krieg begonnen habe, keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche.
    Rund achthundert Kilometer westlich der deutschen Hauptstadt verbrachte der Schriftsteller Stefan Zweig seinen Sommerurlaub in dem kleinen belgischen Seebad Le Coq nahe Ostende, als sich die Meldungen über einen bevorstehenden Krieg zwischen Österreich und Serbien verdichteten. Im Kreis von Zweigs belgischen Freunden wurde gemutmaßt, dass die Deutschen dann nach Belgien einfallen würden. Zweig widersprach energisch. «Mir schien es völlig absurd», so erinnerte er sich später, «daß, während Tausende und Zehntausende von Deutschen hier lässig und fröhlich die Gastfreundschaft dieses kleinen, unbeteiligten Landes genossen, an der Grenze eine Armee einbruchsbereit stehen sollte.» Doch dann spitzte sich die Lage weiter zu: «Mit einemmal wehte ein kalter Wind von Angst über den Strand und fegte ihn leer. Zu
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