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Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Titel: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Autoren: Herfried Münkler
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gehabt und kann deswegen nicht prinzipiell ausgeschlossen werden; allerdings spricht das zögerliche und unentschlossene Agieren der deutschen Regierung dagegen, dass ihrer Politik eine solche Strategie von Anfang an zugrunde gelegen hat. Im Gegenteil: Es war der österreichische Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal, der im Vorfeld dieser Krise eine engere Zusammenarbeit mit Russland gesucht hat. [57] Der einzig verbliebene Verbündete Berlins war somit entweder unzuverlässig, oder aber er wurde zu einer Belastung, weil er Deutschland in Konflikte hineinzog, in denen es nichts zu gewinnen hatte. [58]
    Wenn nun ein
offensive realism
als
politische
Strategie des Deuschen Reichs nicht nachgewiesen werden kann, so könnte dieser sich doch in
ökonomischen
Projekten verbergen. Immanuel Geiss hat den Nachweis dafür zu erbringen versucht, indem er die deutschen Interessen im Vorderen Orient ins Spiel gebracht hat: Die Änderung der deutschen Balkanpolitik sei erfolgt, weil Berlin das fehlende Verbindungsglied zwischen dem deutsch-österreichischen und dem türkischen Eisenbahnnetz schließen wollte. Im Osmanischen Reich trieben die Deutschen seinerzeit den Bau der Bagdadbahn voran und hatten sich die Rechte an der Erschließung von Erdölvorkommen in der Provinz Mesopotamien gesichert. Für die Herstellung einer sicheren Eisenbahnverbindung zwischen Berlin und Bagdad sei die Kontrolle des Balkans und hier insbesondere Serbiens unverzichtbar gewesen, weil die Mittelmächte dann nicht mehr durch eine englische Seeblockade im Mittelmeer und in der Nordsee zu treffen gewesen wären. [59] Die deutsche Politik habe Wien folglich nicht unterstützt, um das Habsburgerreich zu retten, sondern um bei der Verteilung seiner Überreste eine möglichst gute Ausgangsposition zu haben. Diese Interpretation ist freilich hochspekulativ und beruht auf einer Rückprojektion von Vorstellungen, die erst im Verlauf des Krieges diskutiert wurden: 1908 gab es keine eindeutige Positionierung der Türken in einem denkbaren europäischen Krieg, und auch von der Art und Wirkung einer britischen Seeblockade hatte man keine rechte Vorstellungen. Zweifellos wusste die deutsche Regierung um die strategische Bedeutung von Eisenbahnlinien, und in gewisser Hinsicht war die Bahnlinie Bagdad–Berlin das deutsche Gegenstück zur Transsibirischen Eisenbahn der Russen. Für eine sichere Bahnverbindung zwischen Berlin und Bagdad war man jedoch nicht auf Serbien angewiesen; ein politisch belastbares Verhältnis zu Bulgarien hätte für dieses Projekt genügt. Und wäre Deutschland gegenüber Serbien tatsächlich so offensiv eingestellt gewesen, wie einige annehmen, hätte es wirtschaftspolitisch anders agiert: Als Wien 1906 den Import serbischen Schweinefleisches untersagte, um Belgrad unter Druck zu setzen, sprang Deutschland umgehend als dessen Ersatzabnehmer ein. Auch widersetzte es sich am Ende des Ersten Balkankriegs dem Wiener Ansinnen, den serbischen Gebietszuwachs zu begrenzen, und drang stattdessen darauf, dass Wien nur politisch erfüllbare Forderungen stellte. [60] Dies war die Voraussetzung dafür, dass London mäßigend auf Russland einwirken konnte, wodurch die drohende Eskalation gestoppt wurde.
    Das alles passt nicht zu der Annahme, die Balkanpolitik des Deutschen Reichs sei offensiv gewesen. Vielmehr scheint Berlin von Fall zu Fall entschieden zu haben und agierte dabei ohne übergeordnete Zielsetzung, ohne
grand strategy
also. Dadurch war es in der Lage, zusammen mit England ein erfolgreiches Konfliktmanagement zu betreiben. Damit aber wird die Frage umso bedeutsamer, warum dies im Juli 1914 nicht in ähnlicher Weise funktionierte und es nicht gelang, den Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien ein weiteres Mal zu begrenzen und politisch zu moderieren.

2. Auf der Suche nach der schnellen Entscheidung
    Der 1 . August 1914 war ein Samstag. Schon am Morgen strömte in Berlin eine große Menschenmenge zum Schloss, um Neuigkeiten zu erfahren, nachdem am Vortag der «Zustand drohender Kriegsgefahr» verkündet worden war – die unmittelbare Vorstufe zur allgemeinen Mobilmachung. [183] Bereits an diesem 31 . Juli hatten sich Zehntausende vor der Hohenzollernresidenz versammelt, um zu hören, welche Beschlüsse man in Wien und Sankt Petersburg gefasst hatte und wie man in Berlin darauf reagieren würde: Gegen vier Uhr nachmittags hatte, preußischer Tradition entsprechend, ein von achtundzwanzig Soldaten begleiteter Offizier das Schloss
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