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Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918

Titel: Der Große Krieg: Die Welt 1914 bis 1918
Autoren: Herfried Münkler
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Historiker Fritz Stern im Rückblick auf das 20 . Jahrhundert gemeint hat. Es waren freilich weniger die sozialen und politischen Widersprüche, an denen Deutschland gescheitert ist und die es auf den Weg in diesen Krieg gedrängt haben, als vielmehr eine Mischung aus Großmannssucht und Ängstlichkeit, wie sie für die deutsche Politik seit der Jahrhundertwende prägend war. Zweifellos gab es in Deutschland starke gesellschaftliche Gegensätze – wie alle anderen europäischen Länder war es eine Klassengesellschaft –, und es war politisch zutiefst gespalten. Aber diese politischen Spaltungen gab es auch in anderen Ländern. Die inneren Gegensätze als Ursache oder Motiv für eine «Flucht in den Krieg» geltend zu machen, wie es die Historiographie der Bundesrepublik zeitweilig getan hat, heißt, die «nivellierte Mittelstandsgesellschaft» der frühen Bundesrepublik zum Parameter der Friedensfähigkeit zu erklären.
    Der Krieg hatte mit einer beeindruckenden Selbstmobilisierung der Gesellschaft begonnen: Schichten, die bislang nicht den von ihnen beanspruchten sozialen und politischen Platz gefunden hatten, wollten in dieser Ausnahmesituation ihre Unverzichtbarkeit für das Wohlergehen des Vaterlands beweisen. Insbesondere die Mittelschichten haben diesen Krieg zu «ihrem» Krieg gemacht, ihn begeistert begrüßt, zu wesentlichen Teilen durch Kriegsanleihen auch finanziert und schließlich verloren. In Deutschland galt dies in besonderem Maße und war auf die im Vergleich zu anderen Ländern größere gesellschaftliche Dynamik und die zum Teil besonders rückständigen Formen politischer Partizipation und sozialer Akzeptanz zurückzuführen. Die Darstellung des Krieges muss bei der Behandlung dieser Fragen freilich darauf achten, dass sie aus graduellen Unterschieden keine prinzipiellen Gegensätze macht, denn auch hierin unterschied sich Deutschland von Frankreich und England eher in Nuancen als im Grundsätzlichen. Im Wahlrecht zum Reichstag gehörte Deutschland zu den fortschrittlichsten Ländern, im preußischen Wahlrecht dagegen zu den zurückgebliebensten. Die komparativ angelegten Studien der letzten Jahrzehnte haben hier manches Klischee von der deutschen Rückständigkeit beiseitegeräumt.
    Es würde freilich zu kurz greifen, den Krieg nur im Sinne George Kennans als «die Urkatastrophe des 20 . Jahrhunderts» zu begreifen und es dabei zu belassen. Er hat auch einen – zugegebenermaßen häufig paradoxen – Modernisierungsschub ausgelöst, der die soziale und kulturelle Welt Europas von Grund auf verändert hat. Der Krieg hat zu einer beispiellosen sozialen Nivellierung geführt, und das keineswegs nur dort, wo in seiner Folge Regierungen mit sozialistischer Programmatik an die Macht gekommen sind. Die alteuropäische Gesellschaft der Stände und Klassen ist durch den Krieg und das egalisierende Kriegserlebnis in ihren Grundfesten erschüttert worden, und auch die moralischen und ästhetischen Wertungen, die zuvor allem avantgardistischen Widerspruch zu Trotz gesellschaftlich unerschütterlich erschienen, standen danach zur Disposition. Die Verfügung über das, was als wahr, schön und gut galt, war dem gehobenen Bürgertum und den ihm verbundenen Gelehrten entglitten. Nicht nur die Kronen lagen auf der Straße, wie Friedrich Engels das bereits 1895 für den Fall eines großen europäischen Krieges prognostiziert hatte, sondern auch die Werturteile und ästhetischen Maßstäbe, mit denen die Akademiepräsidenten zuvor den Kunstbetrieb gesteuert hatten, waren obsolet geworden. Aber auch hier ist die Destruktivität des Krieges mit einer gewaltigen Produktivität verbunden: Kein Krieg zuvor und danach hat eine so intensive künstlerische und literarische Verarbeitung erfahren wie der Krieg von 1914 bis 1918 . Er ist dadurch zu einer kulturellen Wasserscheide geworden: Niemand hat Eric Hobsbawm widersprochen, als er erklärte, dass das «lange 19 . Jahrhundert» 1914 geendet habe.
    Was in der älteren Literatur zu sehr betont, in der neueren dagegen fast völlig in den Hintergrund gedrängt worden ist, soll in dieser Darstellung des Krieges und seiner Vorgeschichte möglichst angemessen berücksichtigt werden: die geopolitische Lage Deutschlands in der Mitte des Kontinents und die sich daraus ergebenden Ansprüche und Besorgnisse, Einflussmöglichkeiten und Bedrohungsszenarien. Das Deutsche Reich war weder stark genug, um die Verhältnisse auf dem Kontinent nach seinem Gutdünken zu regeln, noch
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