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Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman

Titel: Im Nebel eines neuen Morgens - Kriminalroman
Autoren: Bastei Lübbe
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    er kahle Pekannussbaum im Garten der Julinots reckte seine Klauen in den Himmel. Der Sturm hatte sich ohne Vorwarnung im Golf von Mexiko zusammengebraut, hatte Regen mitgebracht sowie einen ersten Anflug winterlicher Kühle und war so schnell wieder abgezogen, wie er gekommen war. Zurück blieben heimtückische Straßen und anschwellende Sümpfe, die gierig an die Ufer schlugen.
    Raymond umklammerte das Lenkrad des Chevy, dessen glatte, schmale Reifen auf dem schmierigen Untergrund ständig wegzurutschen drohten. Der Vollmond brach durch die Wolkendecke und erhellte den Weg klarer als die Scheinwerfer seines Wagens, mit dem er zu einer Tragödie unterwegs war. Immer waren es Tragödien, wenn er gerufen wurde. Tod und Verlust, das waren seine vertrauten Gefährten, die er in Übersee kennengelernt hatte und denen er jetzt nicht mehr entkommen konnte.
    Er drückte das Gaspedal durch. Etwas Schwerwiegendes musste vorgefallen sein, wenn er Benzin verbrauchte, das in diesen Kriegszeiten streng rationiert war. In New Iberia, Louisiana, holte man nicht die Polizei, außer es war unumgänglich.
    Unbehagen beschlich ihn, als er an den Besucher zurückdachte, der ihn zu dieser Fahrt veranlasst hatte. Zwanzig Minuten zuvor war Emanuel Agee im Sheriffbüro aufgetaucht, blass, atemlos, mit klappernden Zähnen. »Beaver Creek« war alles, was er hervorgestoßen hatte – und »Schnell!«.
    Dann war der Junge wieder in die Nacht verschwunden, nur die nassen Abdrücke seiner nackten Füße waren auf dem Boden des Büros zurückgeblieben. Keiner aus der Gemeinde hielt sich länger als nötig im Sheriffbüro auf, schon gar nicht, wenn Raymond anwesend war. Die Leute mieden ihn, seine Schwermut beunruhigte sie.
    Aufgeschreckt von Emanuels Angst, war Raymond in den strömenden Regen hinausgetreten. Nichts hatte mehr auf die Anwesenheit des Jungen hingedeutet. Manche würden sagen, eine Todesfee oder ein böser Geist habe sich der Seele des Jungen bemächtigt und sei gekommen, um Unheil über den Deputy zu bringen. Der Regen hatte alle Spuren von Emanuel verwischt. Raymond aber wusste, dass der Junge sich in einer Seitengasse verbarg und nicht befragt werden wollte.
    Raymond hatte seinen Revolver, eine Taschenlampe und seinen Hut geholt und sich auf den Weg zu dem fünf Meilen entfernten schmalen Bachlauf gemacht, in dem sich in den heißen Sommermonaten die Brassen und Flusskrebse tummelten.
    Der Beaver Creek lag nur ein Stück weit hinter der Julinot-Farm. Raymond drosselte die Geschwindigkeit, als er sich der Brücke näherte. Häufig musste er bei solcher Witterung aus den angeschwollenen Bächen die Wagen ziehen, deren Fahrer zu tief ins Glas geschaut hatten, um die schmalen, geländerlosen Brücken richtig einzuschätzen. Der Gedanke, möglicherweise Ertrunkene vorzufinden, erfüllte ihn mit großem Unbehagen. Frauen und Kinder waren oft die unschuldigen Beifahrer, am Steuer immer die Männer, in deren Gesichtszügen noch das Entsetzen über ihre Tat zu lesen war. Er verspürte nicht den geringsten Wunsch, so einen Unglücksfall zu sehen zu bekommen. Aber es gehörte zu seinem Job. Joe Como, der Sheriff, ließ sich nur ungern mitten in der Nacht stören. Joe, der aus politischem Ehrgeiz seinen Namen Comeaux anglisiert hatte und lieber zu einem Plausch ins Café ging. Und die Toten seinem Deputy überließ.
    Er näherte sich der Brücke, die im Mondlicht deutlich zu erkennen war. Unzerstört. Es war Oktober, der Jagdmond. Milchweiß strahlte der Mond zwischen den vorüberziehenden Gewitterwolken und warf lange Schatten auf den Weg.
    An der Brücke hielt er an. Von einem Unfall war nichts zu sehen, das Wasser strömte ungehindert unter den Holzbalken hindurch. Verwundert ging er zum Ufer hinunter und suchte nach Reifenspuren. Nichts, im sandigen Erdreich nur vom Hochwasser ausgewaschene Rinnen.
    Erst als er wieder hochstieg, hörte er ein Geräusch, bei dem sich ihm die Nackenhaare aufstellten. Gelächter hallte durch die Bäume, es kam von allen Seiten, umzingelte ihn. Mit einer Hand am schlanken Stamm einer Sumpfzypresse blieb er stehen. Sein ganzer Körper spannte sich. In einer fließenden Bewegung zog er die Waffe aus dem Halfter, hielt sie locker in der Hand und lauschte.
    Wieder das Gelächter, das von allen Seiten auf ihn eindrang, ein Laut des Wahnsinns, den er fast im Wind riechen konnte. Er folgte ihm zum Weg hinauf und wusste, dass seine Vergangenheit ihn endlich eingeholt hatte.
    Hinter
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