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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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die Faust des Musikers durchschlug die dünne Tür. Der bittere Geruch von Blut breitete sich aus.
    Alex machte noch einen Versuch: »Bennie, das ist doch …«
    Scotty riss sich von Bennie los und knallte Alex das Knie in die Eier, worauf er zu Boden ging und sich krümmte und wand. Scotty trat ihn zur Seite und riss die Tür auf.
    »Hallo«, war draußen eine Stimme zu hören. Eine laute, klare Stimme, vage vertraut. »Hier ist Lulu.«
    Durch seine bohrenden Schmerzen hindurch konnte Alex den Kopf drehen und mit ansehen, was sich vor dem Wohnwagen abspielte. Scotty stand noch immer an der Tür und schaute nach unten. Die schräg stehende Wintersonne ließ Lulus Haare aufleuchten und bildete einen Heiligenschein um ihr Gesicht. Sie versperrte Scotty den Weg, indem sie die beiden dünnen Metallgeländer festhielt. Scotty hätte sie problemlos umstoßen können, aber das tat er nicht. Und weil er zögerte, weil er eine zusätzliche Sekunde dieses wunderhübsche Mädchen anschaute, das ihm da in die Quere kam, hatte Scotty verloren.
    »Kann ich mit dir gehen?«, fragte Lulu.
    Bennie war losgelaufen, um die Gitarre zu holen, und reichte sie nun Scotty über den am Boden liegenden Alex hinweg. Scotty nahm das Instrument, hielt es an seine Brust und holte lange und zitternd Atem. »Nur, wenn du meinen Arm nimmst, Liebling«, antwortete er, und der Geist des einstigen Scotty Hausmann stieg für einen Augenblick vor Alex aus den Ruinen, sexy und verführerisch.
    Lulu schob ihren Arm durch Scottys, und sie gingen mitten durch die Menge, der verkommene alte Typ mit dem seltsamen langen Instrument und die junge Frau, die seine Tochter hätte sein können. Bennie half Alex auf die Beine, und sie liefen hinterher. Alex hatte weiche, zuckende Knie. Der Ozean aus Menschen teilte sich spontan und machte eine Schneise zur Tribüne frei, wo ein Hocker und zwölf riesige Mikrofone aufgebaut worden waren.
    »Lulu«, sagte Alex zu Bennie und schüttelte den Kopf.
    »Sie wird die Welt regieren«, sagte Bennie.
    Scotty stieg auf die Tribüne und setzte sich auf den Hocker. Ohne einen Blick ins Publikum oder ein Wort der Begrüßung fing er an mit »Ich bin ein kleines Schäfchen«, ein Stück, dem er mit den filigranen Schwingungen seiner Slide-Gitarre und ihrer komplexen metallischen Wucht alles Kindische nahm. Er machte weiter mit »Was Zicklein gerne essen« und »Ein kleiner Baum ist so wie du«. Die Verstärkeranlage war sensibel und mächtig genug, um das Schrappen der Hubschrauber zu übertönen und den Klang auch an die fernen Ausläufer der Menge weiterzutragen, wo er zwischen den Gebäuden verhallte. Alex wand sich beim Zuhören, er rechnete mit einem wütenden Gebrüll der Tausenden, die er in aller Heimlichkeit zusammengebracht hatte und deren Wohlwollen durch das lange Warten schon zermürbt war. Aber das passierte nicht, die Patscher, die diese Lieder schon kannten, klatschten und kreischten ihre Zustimmung, und die Erwachsenen schienen neugierig geworden zu sein, eingestimmt auf leicht zu findende Doppeldeutigkeiten und Unterschwelliges. Und es kann sein, dass sich eine Menge in einem bestimmten historischen Moment den Grund für ihre Versammlung selber liefert, wie das beim ersten Human Be-in beim Monterey Popfestival und in Woodstock passiert war. Es ist auch möglich, dass zwei Generationen von Krieg und Überwachung die Menschen dazu gebracht hatten, dass sie ihr eigenes Unbehagen in einem einsamen unsicheren Mann mit einer Slide-Gitarre verkörpert sehen wollten. Aus welchem Grund auch immer stieg eine Zustimmung, greifbar wie Regen, aus der Mitte der Menge auf und schwappte weiter an die Ränder, wo sie gegen Gebäude und die Uferpromenade schlug und mit verdoppelter Kraft zu Scotty zurückgeworfen wurde, ihn vom Hocker hob, auf die Füße riss (die Roadies stellten in aller Eile die Mikrofone entsprechend ein) und das zitternde Schattenbild, das Scotty noch Augenblicke zuvor gewesen zu sein schien, explodieren ließ und etwas Starkes, Charismatisches und Wildes freisetzte. Alle, die an jenem Tag dort waren, können versichern, dass das Konzert erst wirklich begann, als Scotty aufstand. Denn nun fing er mit den Liedern an, die er in den Jahren im Untergrund geschrieben hatte, Lieder, die niemand kannte und wie sie niemand je gehört hatte – »Meine tausend Augen«, »Nullen und Einsen«, »Wer zuerst wegsieht« – Lieder über Paranoia und Entfremdung, die sich ein Mann aus der Brust gerissen hatte, dem man ansehen
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