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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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ging schneller weiter. Alex hatte seine Frau vor der Bibliothek überrascht, was er jetzt häufiger machte, um dem Baulärm in der Wohnung zu entgehen. Aber an diesem Tag hatte er einen zusätzlichen Grund: Er musste ihr von seiner Abmachung mit Bennie erzählen, und zwar unverzüglich.
    Bis sie den Hudson erreicht hatten, war die Sonne hinter der Wasserwand verschwunden, aber als sie die Stufen zur UFERPROMENADE hochstiegen, wie der mit Brettern verschalte Mauerwall überschwänglich genannt wurde, stellten sie erleichtert fest, dass sie noch immer orange-rot und wie ein Dotter unmittelbar über Hoboken verharrte. »Runter«, befahl Cara-Ann, und Rebecca ließ sie los. Cara-Ann rannte zum Eisengeländer an der Außenseite der Mauer, wo sich um diese Tageszeit immer Menschen drängten, denen vermutlich der Sonnenuntergang (wie Alex) kaum aufgefallen war, als es die Mauer noch nicht gegeben hatte. Jetzt konnten sie nicht genug davon bekommen. Während er Cara-Ann in die Menge folgte, nahm Alex Rebeccas Hand. Solange er sie kannte, konterkarierte seine Frau ihre sexy Schönheit mit einer idiotischen Brille, manchmal in Richtung Dick Smart, dann wieder in Richtung Catwoman. Bisher hatte Alex diese Brille toll gefunden, weil sie Rebeccas sexy Schönheit nicht unterdrücken konnte, aber neuerdings war er sich da nicht mehr sicher: Zusammen mit Rebeccas frühzeitig ergrauenden Haaren und der Tatsache, dass sie oft nicht genug schlief, drohte die Brille ihre Verkleidung zu einer Identität zu zementieren: einer verhärmten Akademikerin, die verzweifelt versuchte, ein Buch zu vollenden, während sie zwei Seminare hielt und mehreren Ausschüssen vorsaß. Was Alex am meisten zu schaffen machte, war seine eigene Rolle in diesem Tableau: die des alternden Musikfreaks, der seinen Lebensunterhalt nicht verdienen kann und seiner Frau den Lebenssaft (oder jedenfalls die sexy Schönheit) aussaugt.
    Rebecca war in der akademischen Welt ein Star. Ihr neues Buch behandelte das Phänomen der Worthülsen, eine Bezeichnung, die sie für Wörter erfunden hatte, die ohne Anführungszeichen keine Bedeutung mehr besaßen. Im Englischen wimmelte es von diesen leeren Wörtern – »Freund« und »wirklich« und »Geschichte« und »Wandel« –, Wörtern, die ihrer Bedeutung beraubt und zu leeren Schalen geworden waren. Einige, wie »Identität«, »Suche« und »Wolke« hatten ihr Leben einwandfrei durch die Verwendung im Netz eingebüßt. Bei anderen waren die Gründe komplizierter, wieso war »amerikanisch« zu einer ironischen Bezeichnung geworden? Wieso wurde »Demokratie« spöttisch und mit hochgezogenen Augenbrauen verwendet?
    Wie immer senkte sich in den letzten Sekunden, ehe die Sonne entschwand, Schweigen über die Menge. Sogar Cara-Ann auf Rebeccas Arm verstummte. Alex spürte den letzten Rest Sonnenschein auf seinem Gesicht und schloss die Augen, um die schwache Wärme auszukosten, und seine Ohren waren erfüllt vom Tuckern einer vorüberfahrenden Fähre. Sobald die Sonne verschwunden war, bewegten sich alle ganz plötzlich, als sei ein Zauber aufgehoben worden. »Runter«, sagte Cara-Ann und lief über die Uferpromenade davon. Rebecca rannte lachend hinterher. Alex überprüfte eilig sein Smartpad.
    JD Dnkt drübR nach
    OK , Sancho
    Cal: k1 bock.
    Bei jeder Antwort erlebte er eine Mischung aus Emotionen, die ihm im Laufe eines Nachmittags vertraut worden waren. Triumph durchsetzt mit Verachtung bei den Zusagen, Enttäuschung angehaucht von Bewunderung bei den Absagen. Er wollte gerade eine Antwort eingeben, als er ein lautes Trappeln hörte und dann den sehnsüchtigen Schrei seiner Tochter: »Lolliiiiii!« Alex schnippte das Smartpad weg, aber es war zu spät. Cara-Ann zerrte an seinen Jeans. »Das meins«, sagte sie.
    Rebecca trat neben sie. »Ach. Das ist der Lolli.«
    »Sieht so aus.«
    »Du hast es ihr gegeben?«
    »Nur einmal, okay?« Aber sein Herz hämmerte.
    »Du hast einfach die Regeln geändert, so ganz allein?«
    »Ich habe sie nicht geändert, es war ein Versehen. Okay? Darf mir mal ein einziges verdammtes Versehen passieren?«
    Rebecca hob eine Augenbraue. Alex spürte, wie sie ihn musterte. »Warum jetzt?«, fragte sie. »Warum heute, nach all der Zeit – ich kapier das nicht!«
    »Da gibt es nichts zu kapieren«, blaffte Alex, aber er dachte: Woher weiß sie das? Und dann: Was weiß sie eigentlich?
    Sie standen einander im verlöschenden Licht gegenüber. Cara-Ann wartete schweigend, der Lolli war offenbar
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