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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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zugezogen, ehe die Pinkelgeräusche verstummt waren. Sie hatte die Toilettentür mit Schwung aufgestoßen und war durch das Hotelfoyer in die Bar zurückgeschwebt. Sie und die Besitzerin der Brieftasche hatten einander gar nicht zu Gesicht bekommen.
    Vor der Brieftasche war Sasha in den Fängen eines harten Abends gewesen: beim langweiligen Date (schon wieder einem) mit einem Typen, der sich hinter einem dunklen Pony versteckte und nur manchmal einen Blick hinüber zum Flachbildschirm warf, wo ein Spiel der Jets ihn mehr zu interessieren schien als Sashas zugegebenermaßen schon viel zu oft erzählte Anekdoten über Bennie Salazar, ihren ehemaligen Boss, der berühmte Gründer der Plattenfirma Sow’s Ear, der außerdem (wie Sasha zufällig wusste) Goldflocken in seinen Kaffee streute – als Aphrodisiakum, wie sie annahm – und sich Insektenvertilger in die Achselhöhlen sprühte.
    Nach der Brieftasche jedoch knisterte die Luft geradezu vor aufregenden Möglichkeiten. Sasha merkte, wie die Kellner sie musterten, als sie zum Tisch zurück schlenderte und dabei die Tasche mit ihrem geheimen Gewicht festhielt. Sie setzte sich und trank einen Schluck von ihrem Melon Madness Cocktail und sah Alex mit schräggelegtem Kopf an. Sie lächelte ihr Wie-wär’s-Lächeln.
    »Hallo«, sagte sie.
    Das Wie-wär’s-Lächeln hatte eine erstaunliche Wirkung.
    »Du bist gut drauf«, sagte Alex.
    »Ich bin immer gut drauf«, sagte Sasha. »Nur vergesse ich das manchmal.«
    Alex hatte bezahlt, während sie auf der Toilette gewesen war – ein klarer Beweis dafür, dass er kurz davor gewesen war, ihr Date frühzeitig zu beenden. Jetzt betrachtete er sie auf einmal interessiert. »Möchtest du irgendwoanders hingehen?«
    Sie standen auf. Alex trug eine schwarze Cordhose und ein weißes Oberhemd. Er arbeitete in einer Anwaltskanzlei. Per E-Mail war er fantasievoll gewesen, fast cool, aber bei der persönlichen Begegnung wirkte er nervös und gelangweilt. Sie konnte sehen, dass er durchtrainiert war, nicht weil er ins Fitnessstudio ging, sondern weil er so jung war, dass der während Highschool und College betriebene Sport sich noch immer an seinem Körper abzeichnete. Sasha, mit fünfunddreißig, hatte diesen Punkt hinter sich gelassen. Aber nicht einmal Coz kannte ihr wahres Alter. Nie wurde sie für älter als einunddreißig gehalten, und die meisten schätzten sie auf Mitte zwanzig. Sie machte jeden Tag Sport und mied die Sonne. Ihre Onlineprofile führten sie alle als achtundzwanzig.
    Als sie Alex aus der Bar folgte, konnte sie der Versuchung nicht widerstehen, ihre Handtasche zu öffnen und für eine Sekunde die pralle grüne Brieftasche anzufassen, um zu spüren, wie sich dabei ihr Herz zusammenzog.
    »Sie wissen genau, was für ein Gefühl der Diebstahl Ihnen gibt«, sagte Coz. »Es muntert Sie sogar auf, sich daran zu erinnern. Aber denken Sie je daran, wie es der bestohlenen Person dabei geht?«
    Sasha legte den Kopf in den Nacken, um ihn anzusehen. Sie machte das ab und zu, einfach um Coz daran zu erinnern, dass sie keine Idiotin war – sie wusste, wie die richtige Antwort auf die Frage lautete. Sie und Coz schrieben zusammen an einer Geschichte, deren Ende bereits feststand: Es würde gut ausgehen. Sasha würde aufhören, andere zu bestehlen, und sich wieder um die Dinge kümmern, die früher einmal ihr Leben geprägt hatten: Musik, der Freundeskreis, den sie sich seit ihrer Ankunft in New York aufgebaut hatte, die Ziele, die sie auf ein großes Blatt Papier geschrieben und an die Wände ihrer ersten Wohnungen geklebt hatte:
    Eine Band zum Managen finden.
    Die Nachrichten verfolgen.
    Japanisch lernen.
    Harfe üben.
    »Ich denke dabei nicht an die Leute«, sagte Sasha.
    »Aber es ist doch nicht so, dass Sie kein Mitgefühl hätten«, sagte Coz. »Das wissen wir seit dem Klempner.«
    Sasha seufzte. Sie hatte Coz die Klempnergeschichte einen Monat zuvor erzählt, und er ließ bei kaum einer Sitzung die Gelegenheit aus, sie zur Sprache zu bringen. Der Klempner war ein alter Mann, und Sashas Vermieter hatte ihn geschickt, um einer feuchten Stelle in der Wohnung unter ihrer auf den Grund zu gehen. Er war in Sashas Türöffnung erschienen, mit grauen Haarbüscheln auf dem Kopf, und nach weniger als einer Minute – rums! – lag er auf dem Boden und kroch unter Sashas Badewanne, wie ein Tier, das sich den Weg in seinen vertrauten Bau sucht. Die Finger, mit denen er nach den Schrauben hinter der Wanne tastete, waren zu
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