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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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Fitnessstudio.«
    Die Wanne hatte einen Deckel, auf dem Sasha ihre Teller stapelte. Alex fuhr mit den Händen am Rand der Badewanne entlang und untersuchte die Löwenfüße. Sasha zündete die Kerzen an, nahm eine Flasche Grappa aus dem Küchenschrank und füllte zwei kleine Gläser.
    »Ich finde es wunderschön hier«, sagte Alex. »Man spürt die Atmosphäre des alten New York. Man weiß, dass es das irgendwo gibt, aber wie findet man es?«
    Sasha lehnte sich neben ihn an die Wanne und trank einen winzigen Schluck Grappa. Er schmeckte wie Tafil. Sie versuchte sich an Alex’ Alter in seinem Profil zu erinnern. Achtundzwanzig, dachte sie, aber er kam ihr jünger vor, vielleicht sehr viel jünger. Sie sah ihre Wohnung so, wie er sie sicher sah – ein Stück Lokalkolorit, das im Wirbel der Abenteuer, den alle Neuankömmlinge in New York erleben, bald verschwinden würde. Es ärgerte Sasha, sich als einen Schimmer in dem Erinnerungsnebel zu sehen, in dem Alex in ein oder zwei Jahren stochern würde: Wo war noch die Wohnung mit der Badewanne? Wer war die Frau?
    Er löste sich von der Wanne, um die restliche Wohnung zu erforschen. Auf der einen Seite der Küche lag Sashas Schlafzimmer. Auf der anderen, zur Straße hin, war ein Raum, der gemütliches Wohnzimmer und Büro in einem war, mit zwei Polstersesseln und dem Schreibtisch, den sie Projekten außerhalb ihres Jobs vorbehielt – PR -Arbeit für Bands, an die sie glaubte, kurze Rezensionen für Vibe und Spin –, obwohl die in den letzten Jahren sehr viel weniger geworden waren. Überhaupt hatte die ganze Wohnung, die vor sechs Jahren wie eine Zwischenstation auf dem Weg zu etwas Besserem gewirkt hatte, sich um Sasha herum verfestigt, hatte an Masse und Gewicht zugelegt, bis sie sich darin gefangen fühlte und es dennoch für ein Glück hielt, dass sie sie hatte – als ob sie nicht nur feststeckte, sondern auch gar nicht weiterziehen wollte.
    Alex beugte sich vor, um sich die winzige Sammlung auf den Fensterbänken anzusehen. Er verharrte bei dem Bild von Rob, Sashas Freund, der zu ihrer Collegezeit ertrunken war, sagte aber nichts dazu. Er hatte die Tische nicht bemerkt, auf denen sie alles aufstapelte, was sie gestohlen hatte; die Kugelschreiber, das Fernglas, die Schlüssel, den Kinderschal, den sie einfach nicht zurückgegeben hatte, als er einem kleinen Mädchen heruntergefallen war, das an der Hand seiner Mutter gerade aus einem Starbucks ging. Sasha ging damals schon zu Coz, deshalb erkannte sie die Litanei der Vorwände, die ihr durch den Kopf jagten: Der Winter ist fast vorüber, Kinder wachsen so schnell, Kinder hassen Schals, es ist zu spät, sie sind schon auf der Straße; es wäre mir peinlich, ihn zurückzugeben, ich hätte ihn ganz leicht nicht herunterfallen sehen können, ich habe ihn ja nicht einmal herunterfallen sehen, ich bemerke ihn jetzt erst: Sieh an, ein Schal! Ein leuchtend gelber Kinderschal mit rosa Streifen – so ein Pech, wem der wohl gehört? Na, ich hebe ihn einfach auf und halte ihn nur kurz fest … Zu Hause hatte sie den Schal mit der Hand gewaschen und nach dem Trocknen sorgfältig zusammengefaltet. Er gehörte zu den Dingen, die sie am liebsten mochte.
    »Was ist das alles?«, fragte Alex.
    Er hatte die Tische jetzt entdeckt und starrte die Haufen an. Es sah aus wie das Werk eines minimalistischen Bibers: ein Haufen Gegenstände, der unverständlich war, aber eindeutig nicht zufällig zusammengetragen. Für Sasha bebte der Tisch nahezu unter der Last von Peinlichkeiten, den Momenten des Beinahe-Erwischtwerdens, den kleinen Triumphen und den Momenten schieren Glücks. Er enthielt in komprimierter Form Jahre ihres Lebens. Der Schraubenzieher lag am Rand. Sasha trat dichter zu Alex, sein Anblick, wie er alles in sich aufnahm, zog sie an.
    »Und was war das für ein Gefühl, als du mit Alex vor all dem standest, was du gestohlen hattest?«, fragte Coz.
    Sasha wandte ihr Gesicht der blauen Couch zu, denn ihre Wangen wurden heiß, und das fand sie schrecklich. Sie wollte Coz nicht den Gefühlswirrwarr erklären, den sie empfunden hatte, als sie dort mit Alex stand: ihren Stolz auf diese Gegenstände, eine Zärtlichkeit, die durch die schändliche Art, wie sie zu ihnen gekommen war, noch gesteigert wurde. Sie hatte alles aufs Spiel gesetzt, und das war das Resultat: das deformierte, entblößte Innerste ihres Lebens. Zu sehen, wie Alex’ Blick über die Haufen von Gegenständen wanderte, wühlte Sasha auf. Sie legte von hinten die
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