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Der größere Teil der Welt - Roman

Der größere Teil der Welt - Roman

Titel: Der größere Teil der Welt - Roman
Autoren: Jennifer Egan
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drin, das schwöre ich«, sagte sie. »Ich habe sie nicht einmal aufgemacht. Ich habe einfach dieses Problem, aber ich bin in Behandlung. Ich wollte nur – bitte, sagen Sie es niemandem. Es hängt für mich alles davon ab.«
    Die Frau sah sie mit ihren sanften braunen Augen an und ließ ihren Blick über Sashas Gesicht wandern. Was entdeckte sie darin wohl? Sasha wünschte, sie könnte sich umdrehen und wieder in den Spiegel blicken, als würde dort endlich etwas über sie zum Vorschein kommen – etwas, das ihr abhandengekommen war. Aber sie drehte sich nicht um. Sie hielt still und überließ sich den Blicken der Frau. Ihr ging auf, dass sie ungefähr in ihrem Alter war – ihrem wahren Alter. Vermutlich hatte sie zu Hause Kinder.
    »Na gut«, sagte die Frau und schlug die Augen nieder. »Das bleibt unter uns.«
    »Danke«, sagte Sasha. »Danke, danke.« Erleichterung und die ersten sanften Tafil-Wellen machten sie schwindelig, und sie lehnte sich an die Wand. Sie spürte, dass die Frau dringend fortwollte. Am liebsten hätte sie sich auf den Boden sinken lassen.
    Jemand klopfte an die Tür, und eine Männerstimme fragte: »Irgendwas gefunden?«
    Sasha und Alex verließen das Hotel und traten hinaus in das trostlose windige Tribeca. Sasha hatte das Lassimo aus alter Gewohnheit vorgeschlagen, es lag in der Nähe von Sow’s Ear Records, wo sie zwölf Jahre lang als Assistentin von Bennie Salazar gearbeitet hatte. Aber ohne das World Trade Center, dessen glühende Lichtstraßen sie immer optimistisch gestimmt hatten, hasste sie die Gegend bei Nacht. Sie hatte Alex satt. In nur zwanzig Minuten hatten sie den ersehnten Punkt des Bedeutsame-Übereinstimmungen-durch-geteilte-Erlebnisse-Feststellens überschritten und den weniger wünschenswerten Zustand des Einander-nur-zu-gut-Kennens erreicht. Alex hatte sich eine Strickmütze über die Stirn gezogen. Seine Wimpern waren lang und schwarz. »Das war seltsam«, sagte er endlich.
    »Ja«, sagte Sasha. Dann, nach einer Pause: »Du meinst, dass wir sie gefunden haben?«
    »Alles. Aber, ja.« Er drehte sich zu ihr um. »War die, na ja, irgendwie versteckt?«
    »Sie lag auf dem Boden. In der Ecke. Hinter so einem Blumentopf.«
    Diese Lüge ließ Schweißtropfen auf Sashas vom Tafil beruhigte Stirn treten. Sie hätte fast gesagt: Oder eigentlich war da gar kein Blumentopf, aber sie konnte gerade noch an sich halten.
    »Es war fast so, als ob sie das absichtlich getan hätte«, sagte Alex. »Um Aufmerksamkeit zu bekommen oder so.«
    »Dazu schien sie aber nicht der Typ zu sein.«
    »Das kann man nie wissen. Das lerne ich gerade, hier im verdammten nyc, du hast ja keine Ahnung, wie die Leute wirklich sind. Sie haben nicht einfach zwei Gesichter, sie sind, naja, multiple Persönlichkeiten.«
    »Sie war nicht aus New York«, sagte Sasha und ärgerte sich über seine Vergesslichkeit, obwohl ihr daran doch gerade gelegen war. »Weißt du nicht mehr? Sie muss ihr Flugzeug morgen kriegen.«
    »Stimmt«, sagte Alex. Er blieb stehen und legte den Kopf schräg, musterte Sasha über den trübe beleuchteten Bürgersteig hinweg. »Aber du weißt doch, was ich meine? Das mit den Leuten?«
    »Ich weiß schon«, sagte sie vorsichtig. »Aber ich glaube, du gewöhnst dich daran.«
    »Ich würde jetzt wirklich lieber woandershin gehen.«
    Sasha brauchte einen Moment, um zu verstehen. »Es gibt hier sonst nichts«, sagte sie.
    Alex drehte sich zu ihr um, verwirrt. Dann grinste er. Sasha grinste zurück – nicht das Wie-wär’s-Lächeln, aber etwas Ähnliches.
    »Das ist ja zu dumm«, sagte Alex.
    Sie nahmen ein Taxi und stiegen die vier Treppen zu Sashas Wohnung in der Lower East Side hoch. Sie lebte seit sechs Jahren in diesem Haus ohne Fahrstuhl. Es roch nach Duftkerzen, und auf ihrem Schlafsofa gab es einen Überwurf aus Samt und jede Menge Kissen, und sie hatte einen alten Farbfernseher mit sehr gutem Bild und eine Auswahl von Andenken von ihren Reisen auf den Fensterbänken; eine weiße Muschel, zwei rote Würfel, eine kleine Büchse mit Tigerbalsam aus China, inzwischen zur Konsistenz von Gummi eingetrocknet, und einen winzigen Bonsai, den sie getreulich goss.
    »Wow«, sagte Alex. »Du hast eine Badewanne in der Küche! Ich hab davon gehört – ich meine, ich habe darüber gelesen, aber ich war mir nicht sicher, ob es noch welche gibt. Die Duschvorrichtung ist neu, nicht? Das ist eine Wannenküchenwohnung, ja!?«
    »Genau«, sagte Sasha. »Aber ich benutze sie fast nie. Ich dusche im
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