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Der Gotteswahn

Der Gotteswahn

Titel: Der Gotteswahn
Autoren: Richard Dawkins
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um seiner Leidenschaft für Käfer nachzugehen. In der Philosophie dagegen bedeutet »Naturalist« etwas ganz anderes: Es ist das Gegenteil von »Supernaturalist«. Julian Baggini erklärt in seinem Buch Atheism: A Very Short Introduction (»Atheismus – eine ganz kurze Einleitung«), was es bedeutet, wenn ein Atheist sich den Naturalismus zu eigen macht: »Die meisten Atheisten sind zwar überzeugt, dass es im Universum nur einen Stoff gibt und dass er physikalischer Natur ist, aber gleichzeitig glauben sie, dass aus diesem Stoff auch Geist, Schönheit, Gefühle und moralische Werte hervorgehen – kurz gesagt, das ganze Spektrum der Phänomene, die das Leben der Menschen bereichern.«
    Gedanken und Gefühle der Menschen erwachsen aus den äußerst komplizierten Verflechtungen physischer Gebilde im Gehirn. Ein Atheist oder philosophischer Naturalist in diesem Sinn vertritt also die Ansicht, dass es nichts außerhalb der natürlichen, physikalischen Welt gibt: keine übernatürliche kreative Intelligenz, die hinter dem beobachtbaren Universum lauert, keine Seele, die den Körper überdauert, und keine Wunder außer in dem Sinn, dass es Naturphänomene gibt, die wir noch nicht verstehen. Wenn etwas außerhalb der natürlichen Welt zu liegen scheint, die wir nur unvollkommen begreifen, so hoffen wir darauf, es eines Tages zu verstehen und in den Bereich des Natürlichen einzuschließen. Und wie immer, wenn wir einen Regenbogen entzaubern, wird er dadurch nicht weniger staunenswert. Wenn große Naturwissenschaftler unserer Zeit religiös zu sein scheinen, so stellt sich bei näherer Betrachtung ihrer Überzeugungen in der Regel heraus, dass sie es nicht sind. Für Einstein und Hawking gilt das mit Sicherheit. Martin Rees, der derzeitige Königliche Astronom und Präsident der Royal Society, sagte mir einmal, er gehe als »ungläubiger Anglikaner zur Kirche … aus Loyalität zum ganzen Stamm«. Er hat keine theistischen Überzeugungen, teilt aber mit den anderen erwähnten Wissenschaftlern den poetischen, vom Kosmos inspirierten Naturalismus. In einer kürzlich ausgestrahlten Fernsehsendung forderte ich meinen Freund, den Frauenarzt Robert Winston, ein angesehenes Mitglied der britischen jüdischen Gemeinde, heraus: Er sollte zugeben, dass sein Judentum genau diesen Charakter hat und dass er in Wirklichkeit nicht an Übernatürliches glaubt. Um ein Haar hätte er dies zugestanden, doch dann scheute er vor der letzten Konsequenz zurück. (Um ehrlich zu sein: Eigentlich sollte er mich interviewen und nicht ich ihn.) 5 Als ich ihn in die Enge trieb, sagte er, nach seiner Erfahrung sei das Judentum eine gute Quelle für die Disziplin, mit der er ein strukturiertes, gutes Leben führen könne. Womöglich stimmt das, aber es hat natürlich nicht das Geringste mit dem Wahrheitsgehalt seiner Behauptungen über Übernatürliches zu tun. Viele intellektuelle Atheisten bezeichnen sich stolz als Juden und befolgen jüdische Riten; vielleicht tun sie es aus Loyalität gegenüber alten Traditionen oder ermordeten Angehörigen, vielleicht aber auch aus einer verworrenen und verwirrenden Bereitschaft heraus, die pantheistische Verehrung, die viele von uns mit Einstein als ihrem bekanntesten Vertreter teilen, als »Religion« zu bezeichnen. Sie mögen nicht gläubig sein, aber sie »glauben an den Glauben«, um eine Formulierung des Philosophen Daniel Dennett zu übernehmen. 6
    Zu den am häufigsten zitierten Bemerkungen von Einstein gehört der Satz: »Wissenschaft ohne Religion ist lahm, Religion ohne Wissenschaft ist blind.« Aber Einstein sagte auch:

    Was Sie über meine religiösen Überzeugungen lesen, ist natürlich eine Lüge, und zwar eine, die systematisch wiederholt wird. Ich glaube nicht an einen persönlichen Gott und habe das auch nie verhehlt, sondern immer klar zum Ausdruck gebracht. Wenn in mir etwas ist, das man als religiös bezeichnen kann, so ist es die grenzenlose Bewunderung für den Aufbau der Welt, so weit unsere Wissenschaft ihn offenbaren kann.

    Hat Einstein sich demnach selbst widersprochen? Oder kann man sich die Zitate so aus seinen Worten herauspicken, dass sie beide Seiten einer Debatte unterstützen? Nein. Einstein meinte mit »Religion« etwas ganz anders, als man normalerweise darunter versteht. Wenn ich im Folgenden den Unterschied zwischen übernatürlicher und Einstein’scher Religion genauer erläutere, sollte man im Hinterkopf behalten, dass ich nur übernatürliche Götter als
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