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Der Gottesschrein

Der Gottesschrein

Titel: Der Gottesschrein
Autoren: Barbara Goldstein
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Fußfesseln! Es dauert nicht lange, und auch sie sind gelöst.
    Mühsam rappele ich mich auf, taumele vor Erschöpfung und Schmerz und stolpere gegen die Wand. Ich muss mich festhalten, um nicht zu stürzen und dabei vielleicht die Kerze umzureißen.
    Ich lehne den Kopf gegen die Wand und lausche.
    Kein Geräusch.
    Ist Tristão weggegangen?
    Hoffentlich!
    Der Gedanke daran, dass ich ihn töten werde, gibt mir die Kraft, mich mit der Schulter gegen die Wand aus fest verfugten Steinquadern zu werfen.
    Sie bewegt sich nicht. Ist der Mörtel schon getrocknet?
    Ich entsinne mich, wie ich mich mit Tayeb in den Hügeln des Mugello nördlich von Florenz auf unsere Expedition durch die Wüste nach Timbuktu vorbereitet habe. Wie ich jeden Tag die vierhundertvierzehn Stufen von Giottos Campanile hinaufgehetzt bin, um Kraft und Ausdauer zu gewinnen. Wie ich vor sechs Jahren mit schmerzenden Beinen die Treppen hinauf zur Domkuppel von Santa Maria del Fiore gerannt bin, um dem schwarzen Mönch zu entkommen, der mich in der Kathedrale ermorden wollte, weil er das vergessene Evangelium in seinen Besitz bringen wollte.
    Verdammt, ich kann es schaffen!
    Ich weiche zurück zur gegenüberliegenden Wand, stoße mich ab und werfe mich mit aller Wucht gegen die Mauer.
    Krachend verschiebt sich ein Steinquader in Schulterhöhe. Zwar nur einen Fingerbreit, aber es ist ein Anfang.
    Weiter!
    Wieder nehme ich Anlauf und stoße gegen das Mauerwerk.
    Die Mauer schwankt. Aber sie hält.
    Mit aller Kraft lehne ich mich gegen den verschobenen Quader. Gott sei Dank hat Tristão die Steine nicht versetzt verlegt. Trotz des großen Gewichts der Quader ist die Mauer deshalb nicht stabil. Mit einem Knirschen ruckt der Stein ein Stück weiter nach außen und zieht die beiden auf ihm lastenden Quader mit sich. Mit aller Kraft drücke ich dagegen. Die Lücke zwischen den Quadern und dem Türsturz ist groß, und der Mörtel ist noch nicht getrocknet, sodass die Steine keinen Halt haben.
    Dumpf poltern die drei Steinquader in das finstere Gewölbe. Mit einem kräftigen Stoß schiebe ich die beiden nächsten hinterher, dann noch einen und noch einen … Schließlich ist die Lücke groß genug. Ich hole meine Kerze, steige auf die verbleibenden zwei Quadersteine und schiebe mich durch die enge Öffnung.
    Die Fackel, die Nikolas in die Wandhalterung gesteckt hat, ist verschwunden. Wo ist mein Dolch? Tristão hat ihn mir abgenommen, als ich bewusstlos war.
    Mit der Kerze in der Hand folge ich der Spur des Sandes, den Tristão auf den Boden gestreut hat, um das Blut des Mamelucken zu verdecken. Nikolas liegt am Ende der Halle unter einem aufgerollten Seil. Neben ihm finde ich meinen Dolch. Ich stecke ihn ein und nehme Nikolas’ Schwertgurt an mich.
    Die Klinge ist seit dem Sturm auf die Zedekia-Höhle noch immer mit Ruß geschwärzt. Ich stecke sie zurück in die Scheide und hänge mir den Gurt quer über den Rücken, sodass der Griff des Schwertes über meine rechte Schulter ragt. Im Übungskampf gegen Tayeb habe ich gelernt, dass ich die für mich viel zu lange Klinge schneller ziehen kann, wenn ich über die Schulter greife und das Schwert auf meinen Gegner niedersausen lasse.
    Ich verlasse das Gewölbe.
    Der Gang führt zu einer Kreuzung. Mit der Kerze hinter meinem Rücken spähe ich vorsichtig um die Ecke.
    Feuerschein! Zwei Fackeln!
    Ich blinzele den Gang hinunter.
    Ist das nicht ein weißer Habit mit rotem Kreuz?
    Es ist Tristão. Und er ist nicht allein.
    Nur weg von hier!
    Ich lösche meine Kerze und husche in den finsteren Gang, der zum Kanal des römischen Aquädukts führt.

· Yared ·
Kapitel 80
    Im Labyrinth des Tempelbergs
    20. Dhu’l Hijja 848, 23. Nisan 5205
    Osterdienstag, 30. März 1445
    Zwei Uhr fünfzehn nachts

    Tristão führt mich den langen Gang entlang. Das Licht seiner Fackel blendet mich, sodass ich vor uns nichts als Finsternis erkennen kann. Plötzlich bleibt er unvermittelt stehen, sodass ich beinahe gegen ihn pralle. Er deutet in einen Korridor, der nach rechts abbiegt und nach wenigen Schritten vor einem Portal endet. »Sie ist da drin.«
    Mit der Schwertspitze stoße ich ihn vorwärts. »Geh schon!«
    Er geht weiter bis zum Portal. Die rostigen Scharniere quietschen, als er sich mit der Schulter gegen die Torflügel wirft, um sie aufzuschieben.
    Der Geruch von feuchtem Sand weht uns entgegen. Und von noch etwas anderem. Ich packe den Schwertgriff noch fester. »Es riecht nach Blut.«
    »Ich habe einen Mamelucken getötet, der
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