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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass
Autoren: Philip Pullman
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»…kommt vom Himmel und badet den Mann wie in Licht. Sie können sich das Bild später noch genauer ansehen, ich lasse es hier, wenn ich gehe. Ich zeige es Ihnen jetzt nur, um die Wirkung der neuen Emulsion vorzuführen. Nun möchte ich Ihnen eine weitere Aufnahme zeigen.«
    Er wechselte das Bild. Das nächste war ebenfalls eine Nachtaufnahme, diesmal allerdings ohne Mondlicht. Es zeigte im Vordergrund eine kleine Gruppe von Zelten, die sich schwach gegen den tiefen Horizont abhoben, und daneben einen Haufen Kisten und einen Schlitten. Das eigentlich Interessante war allerdings der Himmel. Ströme und Schleier von Licht hingen daran wie Vorhänge herunter, befestigt und drapiert an unsichtbaren Haken in Hunderten von Kilometern Höhe oder auseinandergeweht vom Strom eines kosmischen Windes.
    »Was ist das?« sagte die Stimme des Prorektors.
    »Das ist ein Bild der Aurora.«
    »Ein sehr schönes Photogramm«, sagte der Inhaber der Palmer-Professur. »Eines der besten, die ich kenne.«
    »Entschuldigen Sie meine Ignoranz«, sagte die zittrige Stimme des alten Kantors, »aber wenn ich je wußte, was die Aurora ist, habe ich es vergessen. Handelt es sich dabei um das sogenannte Nordlicht?«
    »Ja. Die Erscheinung hat viele Namen. Sie besteht aus Stürmen geladener Teilchen und Sonnenstrahlen außergewöhnlicher Stärke — die selbst unsichtbar sind, aber dieses Leuchten verursachen, wenn sie mit der Atmosphäre reagieren. Wenn genug Zeit gewesen wäre, hätte ich das Bild tönen lassen, um Ihnen die Farben vorzuführen, überwiegend blasse Grün- und Rosatöne mit einem Saum von Karmesin am unteren Rand des vorhangartigen Gebildes. Das Bild wurde mit der herkömmlichen Emulsion aufgenommen. Jetzt möchte ich Ihnen ein Bild zeigen, das mit der Spezialemulsion aufgenommen wurde.«
    Er zog das Bild heraus, und Lyra hörte, wie der Rektor leise sagte: »Wenn er abstimmen lassen will, könnten wir sagen, daß er dazu gar nicht berechtigt ist, weil er nicht im College wohnt. Er hat von den letzten zweiundfünfzig Wochen nicht die für Bewohner vorgeschriebenen dreißig im College verbracht.«
    »Den Kaplan hat er schon auf seiner Seite…«, murmelte der Bibliothekar.
    Lord Asriel steckte ein neues Lichtbild in die Halterung. Es zeigte dieselbe Szene. Wie bei den beiden Bildern davor waren die bei normaler Beleuchtung sichtbaren Konturen und die leuchtenden Vorhänge am Himmel auch hier viel schwächer. Doch in der Mitte der Aurora, hoch über der öden Landschaft, erblickte Lyra dafür etwas ganz anderes. Sie drückte ihr Gesicht an den Spalt, um besser sehen zu können, und sie bemerkte, daß auch die Wissenschaftler in der Nähe der Leinwand sich vorbeugten. Je länger Lyra das Bild anstarrte, desto mehr wuchs ihr Staunen, denn was sich dort im Himmel abzeichnete, waren eindeutig die Umrisse einer Stadt mit Türmen, Kuppeln, Mauern, Gebäuden und Straßen — und alles schwebte in der Luft! Sie unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens.
    Der Cassington-Stipendiat sagte: »Das sieht ja aus wie… eine Stadt.«
    »Exakt«, sagte Lord Asriel.
    »Doch sicher eine Stadt in einer anderen Welt?« sagte der Dekan, und in seiner Stimme schwang Spott.
    Lord Asriel beachtete ihn nicht. Einige Wissenschaftler blickten ungläubig auf die Leinwand, als hätten sie bisher Abhandlungen über die Existenz des Einhorns geschrieben, ohne je eines gesehen zu haben, und als würde ihnen nun ein eben erst gefangenes, lebendes Exemplar vorgeführt.
    »Ist das die Sache, der Barnard und Stokes auf der Spur waren?« fragte der Palmer-Professor. »Das ist sie doch, oder?«
    »Genau das möchte ich herausfinden«, sagte Lord Asriel.
    Er stand neben der beleuchteten Leinwand, und Lyra sah, wie seine dunklen Augen suchend über die Wissenschaftler glitten. Neben ihm leuchteten grün die Augen seines Dæmons. Die ehrwürdigen Häupter der Wissenschaftler waren nach vorn gereckt, in ihren Brillen spiegelte sich das Licht; nur der Rektor und der Bibliothekar lehnten sich in ihren Sesseln zurück und steckten die Köpfe zusammen.
    Der Kaplan sagte gerade: »Sie sagten vorhin, Sie suchten nach Nachricht von der Expedition Grummans, Lord Asriel. Untersuchte auch Dr. Grumman dieses Phänomen?«
    »Ich glaube ja, und ich glaube, daß er bereits einiges darüber wußte. Allerdings wird er uns nichts darüber sagen können, denn er ist tot.«
    »Nein!« rief der Kaplan.
    »Ich fürchte doch, und den Beweis habe ich mitgebracht.«
    Im Zimmer entstand Unruhe.
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