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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass
Autoren: Philip Pullman
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als ob sie ohnmächtig würde. Doch sie hielt sich aufrecht und öffnete die Augen wieder. In ihnen lag eine unendlich schöne Traurigkeit.
    »Nein«, sagte sie, »nein.«
    Ihre Dæmonen hatten sich wieder getrennt. Lord Asriel beugte sich nach unten und drehte seine starken Finger in das Leopardenfell. Dann wandte er sich um und ging ohne ein weiteres Wort hinauf und verschwand. Der goldene Affe sprang in Mrs. Coulters Arme, gab unglückliche Laute von sich und sah der Schneeleopardin mit sehnsüchtig ausgestreckten Armen nach, Mrs. Coulters Gesicht war eine Maske aus Tränen. Lyra sah sie glänzen, sie waren echt. Dann wandte auch ihre Mutter sich um, geschüttelt von stummem Schluchzen, ging den Berg hinunter und verschwand.
    Lyra sah ihr unbeteiligt nach, dann blickte sie zum Himmel auf.
    Leer und still hing die Stadt über ihr, wie neu gebaut, als warte sie noch auf ihre Bewohner oder als schlafe sie und warte darauf, aufgeweckt zu werden. Die Sonne der anderen Welt schien in diese Welt herüber; sie vergoldete Lyras Hände, schmolz das Eis auf Rogers Kapuze aus Wolfspelz, machte seine bleichen Wangen durchsichtig und schimmerte in seinen offenen, blicklosen Augen.
    Der Kummer zerriß Lyra fast, vermischt mit Wut. Sie hätte ihren Vater umbringen können; wenn sie ihm das Herz hätte herausreißen können, hätte sie es auf der Stelle getan, für das, was er Roger angetan hatte und ihr selbst: Er hatte sie hintergangen — wie konnte er es wagen?
    Sie hielt immer noch Rogers Leiche. Pantalaimon sagte etwas, aber in Lyras Kopf herrschte ein solcher Tumult, daß sie ihn erst hörte, als er seine Katzenkrallen in ihren Handrücken drückte. Sie fuhr auf.
    »Was? Was?«
    »Staub!« sagte er.
    »Wovon redest du?«
    »Vom Staub. Er sucht die Quelle des Staubes, um sie zu zerstören, oder?«
    »Das hat er gesagt.«
    »Und die Oblations-Behörde, die Kirche, Bolvangar und Mrs. Coulter und alle anderen wollen sie auch zerstören, ja?«
    »Ja… oder verhindern, daß er weiter auf die Menschen einwirkt… Warum?«
    »Wenn sie alle glauben, daß Staub etwas Schlechtes ist, muß er etwas Gutes sein.«
    Lyra sagte nichts, aber irgendwo tief in ihr erwachte etwas.
    »Wir haben sie von Staub sprechen hören«, fuhr Pantalaimon fort, »und daß sie solche Angst davor haben, und weißt du was? Wir haben ihnen geglaubt, obwohl wir doch erlebt haben, daß sie nur schlechte und böse Dinge taten… Wir hielten Staub für etwas Schlechtes, weil die Erwachsenen das sagten. Wenn er nun gar nichts Schlechtes ist? Was ist, wenn er…«
    »Ja«, rief Lyra atemlos. »Was ist, wenn er gut ist…«
    Sie sah Pantalaimon an, und in seinen grünen Wildkatzenaugen spiegelte sich ihre eigene Erregung. Ihr war schwindlig, als drehe sich die Welt unter ihr.
    Wenn Staub gut war… etwas Erstrebenswertes, Willkommenes, Segensreiches…«
    »Wir könnten uns auch auf die Suche machen, Pan!« sagte sie.
    Das hatte er hören wollen.
    »Vielleicht finden wir ihn vor Lord Asriel«, sagte er, »und…«
    Sie schwiegen beide angesichts dieser gigantischen Aufgabe. Lyra sah zum lodernden Himmel auf. Wie klein sie war, sie und ihr Dæmon, verglichen mit der erhabenen Größe des Universums, und wie wenig sie wußten, verglichen mit den tiefen Geheimnissen da oben.
    »Wir könnten es schaffen«, beharrte Pantalaimon. »Wir sind doch auch den ganzen Weg hierher gekommen. Wir könnten es schaffen.«
    »Aber wir wären allein. Iorek Byrnison könnte uns nicht begleiten und uns helfen. Auch Farder Coram nicht oder Serafina Pekkala oder Lee Scoresby oder sonst jemand.«
    »Dann ist das eben so. Ist doch egal. Außerdem sind wir doch nicht allein, jedenfalls nicht wie…«
    Sie wußte, was er meinte: nicht wie Tony Makarios, nicht wie diese unglückseligen, verlorenen Dæmonen in Bolvangar; wir sind
    immer noch ein Wesen, wir zwei sind eins.
    »Und wir haben das Alethiometer«, sagte sie. »Ja, ich denke, wir müssen es tun, Pan. Wir gehen da rauf und suchen nach dem Staub, und wenn wir ihn gefunden haben, werden wir wissen, was wir tun sollen.«
    Rogers Leiche lag immer noch in ihren Armen. Sanft bettete sie ihn auf den Boden.
    »Und das tun wir dann«, sagte sie.
    Sie wandte sich um. Hinter ihnen lagen Schmerzen, Tod und Angst, vor ihnen Zweifel, Gefahren und unergründliche Geheimnisse. Aber sie waren nicht allein.
    Lyra und ihr Dæmon kehrten der Welt, in der sie geboren worden waren, den Rücken, wandten sich der Sonne zu und gingen mitten in den Himmel
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