Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass
Autoren: Philip Pullman
Vom Netzwerk:
gehorsam gefolgt von seinem Dæmon. Von ihrem Versteck, das eigentlich gar keines war, sah Lyra, wie der Rektor zu einem großen eichenen Kleiderschrank in der Ecke des Zimmers ging, seinen Talar von einem Bügel nahm und umständlich hineinschlüpfte. Einst ein kräftiger Mann, war er inzwischen weit über siebzig und bewegte sich steif und langsam. Sein Dæmon war ein weiblicher Rabe, der, sobald der Rektor den Talar angezogen hatte, vom Schrank herunterflog und sich auf seinem gewohnten Platz auf der rechten Schulter niederließ.
    Lyra spürte, wie Pantalaimon vor Aufregung zitterte, obwohl er keinen Laut von sich gab. Sie selbst war angenehm gespannt. Der vom Rektor erwähnte Besucher Lord Asriel war ihr Onkel, ein Mann, den sie über die Maßen bewunderte und zugleich fürchtete. Er hatte angeblich mit der hohen Politik, geheimen Forschungsreisen und fernen Kriegen zu tun, und sie wußte nie, wann er auftauchen würde. Er hatte ein heftiges Temperament: Wenn er sie hier erwischte, würde er sie schwer bestrafen, aber sie würde es schon überstehen.
    Was sie dann sah, änderte freilich alles.
    Der Rektor nahm aus seiner Tasche ein zusammengefaltetes Blatt Papier und legte es auf den Tisch. Dann entfernte er den Stöpsel einer Karaffe, die mit einem golden leuchtenden Wein gefüllt war, faltete das Papier auf und ließ ein dünnes Rinnsal eines weißen Pulvers hineinrieseln; anschließend zerknüllte er das Papier und warf es ins Feuer. Er nahm einen Stift aus der Tasche, rührte den Wein um, bis das Pulver sich aufgelöst hatte, und verschloß die Karaffe wieder.
    Sein Dæmon krächzte leise. Der Rektor antwortete mit gedämpfter Stimme und ließ seine trüben Augen unter den schweren Lidern durch das Zimmer wandern. Dann entfernte er sich durch die Tür, durch die er gekommen war.
    »Hast du das gesehen, Pan?« flüsterte Lyra.
    »Natürlich! Jetzt schnell raus, bevor der Steward kommt!«
    Aber noch während er sprach, ertönte eine Klingel vom anderen Ende des Saales.
    »Die Klingel des Stewards!« sagte Lyra. »Ich dachte, wir hätten noch Zeit.«
    Pantalaimon flatterte schnell zur Tür und wieder zurück.
    »Er kommt schon«, sagte er. »Und durch die andere Tür kannst du nicht raus…«
    Die andere Tür, durch die der Rektor gekommen und gegangen war, ging auf einen belebten Gang zwischen der Bibliothek und dem Gemeinschaftsraum der Wissenschaftler. Zu dieser Tageszeit drängten sich dort Männer, die schnell noch zum Abendessen einen Talar anziehen oder irgendwelche Papiere und Aktentaschen im Gemeinschaftsraum deponieren wollten, bevor sie sich in den Speisesaal begaben. Lyra hatte durch die Tür verschwinden wollen, durch die sie gekommen war, und sie hatte damit gerechnet, daß ihr bis zur Klingel des Stewards noch einige Minuten Zeit blieben.
    Wenn sie nicht gesehen hätte, wie der Rektor das Pulver in den Wein schüttete, hätte sie den Zorn des Stewards vielleicht in Kauf genommen oder gehofft, unbemerkt über den belebten Gang verschwinden zu können. Doch sie war verwirrt, und darum zögerte sie.
    Dann hörte sie vom Saal her schwere Schritte. Der Steward kam, um nachzusehen, ob im Ruhezimmer der Imbiß aus Mohnkapseln und Wein bereitstand, den die Wissenschaftler nach dem Essen immer zu sich nahmen. Lyra hastete zu dem eichenen Kleiderschrank, öffnete ihn, kroch hinein und konnte gerade noch die Tür hinter sich zuziehen, bevor der Steward eintrat. Um Pantalaimon machte sie sich keine Sorgen; im Zimmer gab es viele dunkle Ecken, und er konnte immer unter einen Sessel schlüpfen.
    Sie hörte den pfeifenden Atem des Stewards und sah durch einen Spalt in der Schranktür, wie er die Pfeifen im Ständer neben der Rauchmühle ordnete und einen prüfenden Blick auf Karaffen und Gläser warf. Dann strich er sich mit beiden Händen die Haare über den Ohren glatt und sagte etwas zu seinem Dæmon. Als Diener hatte er eine Hündin; als Steward freilich eine Hündin von edler Rasse, einen rotbraunen Setter. Die Hündin schien mißtrauisch und sah sich um, als ob sie einen Eindringling spürte, doch sie kam zu Lyras großer Erleichterung nicht zum Schrank. Lyra hatte Angst vor dem Steward; er hatte sie zweimal geschlagen.
    Sie hörte ein leises Flüstern. Offenbar war Pantalaimon zu ihr hereingekrochen.
    »Jetzt sitzen wir hier fest. Warum hörst du auch nicht auf mich!«
    Sie antwortete erst, als der Steward gegangen war, um das Servieren der Speisen an dem Tisch auf dem Podium zu überwachen. Offenbar
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher