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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass
Autoren: Philip Pullman
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Entschuldigen Sie meine ungepflegte Erscheinung, ich bin soeben erst gelandet. Ja, Rektor, der Tokaier ist weg; ich glaube, Sie stehen mitten drin. Der Portier hat ihn vom Tisch gestoßen, aber es war meine Schuld. Guten Abend, Kaplan. Ich habe Ihren letzten Artikel mit großem Interesse gelesen…«
    Er trat mit dem Kaplan zur Seite, und Lyra sah das Gesicht des Rektors wieder unverdeckt. Es zeigte keine Bewegung, doch der Dæmon auf seiner Schulter schüttelte sein Gefieder und trat ruhelos von einem Fuß auf den anderen. Lord Asriel beherrschte den Raum mit seiner Gegenwart, und obwohl er dem Rektor als dem Hausherrn mit ausgesuchter Höflichkeit begegnete, war klar, wer hier das Sagen hatte.
    Die Wissenschaftler begrüßten den Besucher und verteilten sich im Zimmer. Einige setzten sich an den Tisch, andere in die Sessel, und bald erfüllte Stimmengewirr den Raum. Lyra beobachtete, wie sie immer wieder neugierig zu dem hölzernen Kasten, der Leinwand und der Projektionslampe sahen. Das Mädchen kannte die Wissenschaftler gut: den Bibliothekar, den Prorektor, den Examinator und die anderen. Diese Männer waren ihr ganzes Leben lang in ihrer Nähe gewesen, hatten sie unterrichtet, bestraft und getröstet, ihr kleine Geschenke gemacht und sie von den Obstbäumen im Garten ferngehalten. Sie waren ihre Familie; eine andere hatte sie nicht. Vielleicht hätte Lyra für sie dieselben Gefühle empfunden wie für eine Familie, wenn sie gewußt hätte, was das war. Allerdings hätte sie dann wohl doch eher das Collegepersonal für ihre Familie gehalten; die Wissenschaftler hatten meist Wichtigeres zu tun, als auf die Bedürfnisse eines halbwilden Mädchens einzugehen, das durch Zufall in ihrer Mitte gelandet war.
    Der Rektor zündete die Spirituslampe unter der kleinen silbernen Warmhalteplatte an, erhitzte etwas Butter und schnitt dann ein halbes Dutzend Mohnkapseln auf und legte sie auf die Platte. Nach einem Festessen gab es immer Mohn: Er läuterte den Geist, regte die Zunge an und belebte das Gespräch. Und es war ein alter Brauch, daß der Rektor ihn selbst zubereitete.
    Als die Butter zischte und das Gespräch in Gang war, verlagerte Lyra ganz langsam ihr Gewicht, um eine bequemere Stellung zu finden. Mit größter Vorsicht zog sie einen von oben bis unten mit Pelz besetzten Talar vom Bügel und breitete ihn auf dem Boden des Schrankes aus.
    »Du hättest dafür einen alten, kratzigen nehmen sollen«, flüsterte Pantalaimon. »Wenn du es dir zu bequem machst, schläfst du ein.«
    »Wenn ich einschlafe, ist es deine Aufgabe, mich wieder aufzuwecken«, erwiderte sie.
    Sie setzte sich zurecht und lauschte wieder dem Gespräch. Es war sterbenslangweilig und drehte sich fast nur um Politik, allerdings Politik, die London betraf, nichts Aufregendes über die Tataren. Der Geruch des brutzelnden Mohns und der Tabakblätter kam einladend durch die Schranktür, und mehr als einmal nickte Lyra beinahe ein. Doch schließlich hörte sie, wie jemand auf den Tisch klopfte. Die Stimmen verstummten, dann sprach der Rektor.
    »Meine Herren«, sagte er, »ich bin sicher, daß ich für alle spreche, wenn ich Lord Asriel bei uns willkommen heiße. Seine Besuche sind selten, aber immer höchst aufschlußreich, und soviel ich weiß, will er uns heute abend etwas ganz besonders Interessantes zeigen. Wie wir alle wissen, leben wir in einer Zeit großer politischer Spannungen. Lord Asriel wird morgen in aller Frühe in White Hall erwartet; am Bahnhof steht bereits der Zug unter Dampf, der ihn nach London bringen wird, sobald wir unser Gespräch hier beendet haben. Lassen sie uns also die Zeit nützen. Wenn Lord Asriel mit dem fertig ist, was er uns zu sagen hat, wird es wahrscheinlich Fragen geben. Ich bitte, diese kurz und präzise zu halten. Lord Asriel, Sie haben das Wort.«
    »Danke, Rektor«, sagte Lord Asriel. »Zunächst möchte ich Ihnen einige Lichtbilder zeigen. Prorektor, ich glaube, von hier sehen Sie am besten. Und Rektor, vielleicht nehmen Sie hier am Schrank Platz.«
    Der alte Prorektor war fast blind, es war deshalb nur höflich, ihm einen Platz nahe der Leinwand anzubieten, und wenn er nach vorn rückte, kam der Rektor neben dem Bibliothekar zu sitzen, nur etwa einen Meter von Lyras Versteck im Schrank entfernt.
    Als der Rektor sich setzte, hörte Lyra ihn murmeln: »Der Teufel! Ich bin sicher, er wußte von dem Wein.«
    »Er wird uns um finanzielle Unterstützung bitten«, murmelte der Bibliothekar. »Wenn er eine Abstimmung
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