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Der Goldene Kompass

Der Goldene Kompass

Titel: Der Goldene Kompass
Autoren: Philip Pullman
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kamen jetzt die Wissenschaftler in den Saal. Lyra hörte Stimmengemurmel und das Schlurfen von Füßen.
    »Ein Glück, daß ich nicht auf dich gehört habe«, flüsterte sie zurück. »Sonst hätten wir nicht gesehen, wie der Rektor Gift in den Wein schüttet. Pan, das war doch der Tokaier, nach dem er den Butler fragte! Sie wollen Lord Asriel töten!«
    »Du weißt nicht, ob es Gift ist.«
    »Natürlich ist es Gift. Weißt du nicht mehr, daß er den Butler hinausschickte, bevor er es in die Karaffe schüttete? Wenn das Pulver ungefährlich wäre, hätte der Butler doch ruhig zusehen können. Außerdem weiß ich, daß etwas im Busch ist — etwas Politisches. Die Diener sprechen seit Tagen davon. Pan, wir können einen Mord verhindern!«
    »So einen Blödsinn habe ich noch nie gehört«, sagte Pantalaimon kurz. »Wie willst du denn stundenlang in diesem engen Schrank sitzen, ohne dich zu bewegen? Ich sehe draußen im Gang nach, ob die Luft rein ist.«
    Er flog von ihrer Schulter auf, und sie sah seinen kleinen Schatten vor dem hellen Spalt der Schranktür auftauchen.
    »Gib dir keine Mühe, Pan, ich bleibe«, sagte sie. »Hier hängt noch ein Talar oder so etwas, den lege ich auf den Boden und mache es mir bequem. Ich muß sehen, was sie vorhaben.«
    Vorsichtig erhob sie sich aus ihrer hockenden Stellung und tastete nach Kleiderbügeln, um nicht mit ihnen zusammenzustoßen. Der Schrank war größer, als sie angenommen hatte. Er enthielt verschiedene Talare und Überwürfe mit Kapuzen, von denen einige mit Pelz, die meisten aber mit Seide besetzt waren.
    »Ob die alle dem Rektor gehören?« flüsterte sie. »Vielleicht bekommt er solche komischen Kostüme, wenn ihm irgendwo ein Ehrendoktor verliehen wird, und bewahrt sie hier auf, damit er sich feinmachen kann… Pan, glaubst du wirklich, daß im Wein kein Gift ist?«
    »Nein«, sagte der Dæmon. »Ich glaube wie du, daß er vergiftet ist. Aber ich glaube auch, daß uns das nichts angeht. Und ich glaube, dich einzumischen wäre das dümmste aller dummen Dinge, die du in deinem Leben bisher angestellt hast. Es geht uns nichts an.«
    »Sei nicht blöd«, sagte Lyra. »Ich kann doch nicht hier sitzen und zusehen, wie sie ihn vergiften!«
    »Dann laß uns woanders hingehen.«
    »Du bist ein Feigling, Pan.«
    »Natürlich bin ich das. Darf ich fragen, was du tun willst? Willst du aus dem Schrank springen und seinen zitternden Fingern das Glas entreißen? Was hast du vor?«
    »Ich habe noch gar nichts vor, und du weißt das ganz genau«, schimpfte sie leise. »Aber ich habe gesehen, was der Rektor tat, und deshalb habe ich keine Wahl. Du weißt auch, was ein Gewissen ist. Wie kann ich ruhig in der Bibliothek oder sonstwo sitzen und Däumchen drehen, wenn ich weiß, was hier passiert? Däumchen drehe ich ganz bestimmt nicht, darauf kannst du dich verlassen.«
    »Du wolltest das von Anfang an«, sagte er nach einer Pause. »Du wolltest dich hier verstecken und sehen, was passiert. Warum habe ich das nicht gleich gemerkt!«
    »Also gut, zugegeben«, sagte sie. »Alle wissen, daß hier ein geheimes Treffen stattfinden soll, daß sie irgendein Ritual oder so was veranstalten. Und ich wollte einfach wissen, was es war.«
    »Das geht dich nichts an! Wenn sie ihre kleinen Geheimnisse brauchen, laß sie ihnen doch und fühle dich darüber erhaben. Nur dumme Kinder verstecken sich und spionieren.«
    »Ich wußte, daß du das sagen würdest. Jetzt hör auf zu mekkern.«
    Schweigend saßen sie eine Weile da, Lyra auf dem unbequemen harten Boden des Schrankes, Pantalaimon mit gekränkt zuckenden Fühlern auf einem Talar. In Lyras Kopf wirbelten die Gedanken wild durcheinander, und sie hätte sie nur zu gern ihrem Dæmon mitgeteilt, aber auch sie hatte ihren Stolz. Vielleicht sollte sie versuchen, ihre Gedanken ohne Pantalaimons Hilfe zu sortieren.
    Vor allem hatte sie Angst, allerdings nicht um sich selbst. Daß sie in der Klemme steckte, war nichts Neues, und sie war daran gewöhnt. Nein, diesmal hatte sie Angst um Lord Asriel und Angst vor dem, was hier vorging. Lord Asriel besuchte das College nicht oft, und daß er jetzt kam, in einer Zeit großer politischer Spannungen, bedeutete, daß er nicht nur mit einigen alten Freunden essen und trinken und rauchen wollte. Sie wußte, daß Lord Asriel und auch der Rektor Mitglieder des Kabinettsrates waren, der den Premierminister beriet, vielleicht hatte die Besprechung also damit etwas zu tun. Die Sitzungen des Rates fanden allerdings im
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