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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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Feuer zu stehen schienen. Der Mann stieg die Leiter hinan. Quasimodo sah ihn deutlich. Auf der Schulter trug er ein junges, weißgekleidetes Mädchen mit einer Schlinge um den Hals. Quasimodo erkannte sie; sie war es. Der Mann gelangte oben auf die Leiter und befestigte den Strick. Um besser sehen zu können, kniete der Priester auf das obere Geländer. Plötzlich stieß der Mann mit dem Fuße die Leiter fort, und Quasimodo, der kaum noch atmete, sah die unglückliche Esmeralda mit dem Mann an ihren Füßen zwei Ellen über dem Pflaster schweben. Der Strick drehte sich mehrere Male um, und Quasimodo sah, wie furchtbare Zuckungen durch den Körper der Zigeunerin liefen. Der Priester betrachtete mit vorgerecktem Halse, mit Augen, die fast aus den Höhlen traten, diese entsetzliche Gruppe des Mannes und des Mädchens, der Spinne und der Fliege.
    Im furchtbarsten Augenblicke zeigte sich ein teuflisches Lachen, wozu man nur dann fähig ist, wenn man aufhört, Mensch zu sein, auf dem leichenfarbenen Antlitz des Priesters. Quasimodo konnte es zwar nicht vernehmen, aber er sah es. Der Glöckner sprang einige Schritte hinter den Archidiakonus zurück, stürzte plötzlich wütend auf ihn ein und stieß ihn mit beiden Händen in den Abgrund hinab, über den Dom Claude sich lehnte.
    Der Priester rief: „Verdammt!“ und fiel.
    Die Rinne unter ihm hielt ihn auf; er klammerte sich verzweifelt mit den Händen an, und als er den Mund öffnete, um einen zweiten Schrei auszustoßen, sah er über seinem Kopfe am Geländer die rächende, furchtbare Gestalt Quasimodos und schwieg. Unter ihm gähnte ein Abgrund von mehr als zweihundert Fuß. In dieser furchtbaren Lage sprach er kein Wort, ließ keinen Seufzer vernehmen, krümmte sich aber an der Rinne mit unerhörter Kraftanstrengung, um wieder aufzusteigen. Allein seine Hände fanden keinen Halt auf dem Granit; seine Füße kratzten in die geschwärzte Mauer, ohne eine Stütze zu gewinnen. Alle, welche die Türme von Notre-Dame bestiegen, wissen, daß unmittelbar unter der Balustrade eine Bauchung des Steines sich befindet. Auf diesem zurücktretenden Winkel erschöpfte der Archidiakonus seine Kräfte; er rang auf einer nicht spitzigen, sondern unter ihm fliehenden Mauer.
    Quasimodo hätte, um ihn aus dem Abgrund zu ziehen, ihm nur die Hand zu reichen brauchen; allein er sah nicht einmal hin. Er blickte nur auf den Grèveplatz, auf den Galgen, auf die Zigeunerin. Der Taube stützte sich mit den Ellenbogen auf die Balustrade, auf welcher der Archidiakonus noch kurz zuvor gekniet hatte, und stand, auf den einzigen Gegenstand blickend, den es in dem Augenblick für ihn auf der Welt gab, regungslos wie ein vom Blitz Getroffener. Ein Strom von Tränen entstürzte seinem einzigen Auge.
    Der Archidiakonus keuchte. Seine kahle Stirn rieselte von Schweiß, seine Nägel bluteten an dem Stein, seine Knie wurden an der Mauer geschunden. Er hörte, wie sein Priesterkleid, an der Rinne festgehalten, bei jeder Erschütterung krachte und zerriß. Zum Übermaß des Unglücks endete diese Rinne mit einer bleiernen Röhre, die unter der Last seines Körpers sich bog. Der Archidiakonus fühlte, wie sie allmählich wich. Der Unglückliche sah ein, wenn seine Hände, durch die Kraftanstrengung gelähmt, das Blei niedergebogen und sein Kleid zerrissen wäre, müsse er hinabfallen. Furcht quälte sein Herz. Bisweilen blickte er verstört auf eine schmale Fläche zehn Fuß unter sich, die durch einige Skulputen bewirkt war, und dann flehte er mit verzweifelter Seele inbrünstig zum Himmel, auf diesem Raume von zwei Quadratfuß seine Leben beschließen zu dürfen, sollte es auch hundert Jahre währen. Einmal sah er unter sich in den Abgrund, aber sogleich schloß er die Augen, und sein Haar sträubte sich. Das Schweigen beider Männer war furchtbar. Während der Archidiakonus einige Fuß von Quasimodo entfernt so schrecklich mit dem Tode rang, weinte Quasimodo und blickte auf den Grèveplatz.
    Als der Archidiakonus einsah, alle Versuche, emporzuklimmen, erschütterten nur die schwache, ihm noch bleibende Stütze, faßte er den Entschluß, sich nicht mehr zu rühren. Er umarmte die Rinne, atmete kaum, regte sich nicht und war ohne alle andere Bewegung als die maschinenmäßige, krampfhafte Zusammenziehung des Magens, bis man in Träumen, wenn man zu fallen wähnt, empfindet. Seine starrenden Augen waren krankhaft und staunend aufgerissen. Allmählich verlor er den letzten Haltpunkt, seine Finger glitten am Blei
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