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Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame

Titel: Der Glöckner von Nôtre Dame - Hugo, V: Glöckner von Nôtre Dame
Autoren: Victor Hugo , Pößneck GGP Media GmbH
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wieder hinfallen. Sie war tot. Der Henker, der das Mädchen nicht losgelassen hatte, stieg die Leiter hinan.

47. La creatura bella bianco vestita*
    Als Quasimodo sah, daß die Zelle leer und die Zigeunerin verschwunden und entführt war, während er sie verteidigte, fuhr er mit den Händen in seine Haare und zitterte vor Schmerz und Überraschung. Dann durchrannte er die ganze Kirche, heulte mit gräßlichem Geschrei in allen Ecken der Mauer, streute seine ausgerissenen roten Haare auf den Fußboden. Dies geschah gerade in dem Augenblick, als die Schützen des Königs in die Kirche drangen, die Zigeunerin zu suchen. Quasimodo half ihnen, ohne ihre unheilvolle Absicht (der arme Taube!) zu merken. Er glaubte sogar, die Feinde der Zigeunerin wären die Landstreicher. Er führte selbst Tristan l’Hermite in alle nur möglichen Schlupfwinkel und öffnete ihm die geheimen Türen. Wäre die Unglückliche noch dagewesen, so hätte sie in die Hände der Verfolger fallen müssen. Als Tristan aus Ermüdung sich endlich vom Suchen abschrecken ließ, setzte Quasimodo ganz allein seine Nachforschungen fort. Zwanzig-, hundertmal durchlief er den Turm von oben bis unten, nach der Länge und Breite, stieg auf und nieder, rief, suchte und heulte. Endlich, als es ihm ganz offenbar war, er könne sie nicht mehr auffinden, sie sei ihm gestohlen und verloren, stieg er langsam die Turmtreppe hinan, dieselbe Treppe, die er am Tage ihrer Rettung voll Entzücken und im Triumph hinaufgeeilt war. Er durchschritt wieder dieselben Orte, gesenkten Hauptes, ohne Stimme, ohne Tränen, fast ohne Atem. Die Kirche war wieder verlassen und schweigend. Die Häscher und Soldaten waren fortgegangen, um die Hexe in der Stadt zu suchen. Quasimodo, ganz allein in der ungeheuren Kathedrale, die noch kurz vorher belagert und so voll Lärm war, schritt wieder auf die Zelle zu, wo die Zigeunerin so viele Wochen unter seiner Hut geschlafen hatte. Beim Nähertreten bildete er sich ein: dort müsse er sie finden. Als er im Umwenden bei der Galeriebiegung, die an das Dach stößt, stand, erblickte er das enge Kämmerchen mit dem kleinen Fenster, sein Mut entschwand und er stürzte sich auf einen Pfeiler, um nicht umzusinken. Er bildete sich ein, sie sei vielleicht zurückgekehrt, ein guter Geist habe sie hergeführt. Das Kämmerchen sei zu sicher, zu schön und zu ruhig, als daß sie nicht da sein sollte. Er wagte keinen Schritt zu tun, um seine Täuschung sich nicht zu benehmen. – „Ja“, sprach er zu sich selbst, „vielleicht schläft oder betet sie. Ich will sie nicht stören.“ Endlich nahm er allen Mut zusammen, schritt auf den Zehen vor, sah und trat hinein. Die Zelle war leer. Der unglückliche Taube durchschritt sie langsam, hob das Bett in die Höhe, als wolle er sehen, ob sie zwischen dem Boden und der Matraze versteckt läge. Dann schüttelte er den Kopf und stand wie blödsinnig. Plötzlich zertrat er wütend die Fackel und stürzte, ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Seufzer auszustoßen, in vollem Lauf mit dem Kopfe gegen die Mauer und sank ohnmächtig auf das Steinpflaster.

    * Das schöne weißgekleidete Geschöpf (Dante).
    Als er wieder zu sich kam, warf er sich aufs Bett, wälzte sich umher, küßte wahnsinnig den noch warmen Platz, wo das Mädchen geschlafen hatte, lag einige Minuten unbeweglich, als wolle er dort sterben; dann stand er, von Schweiß triefend, keuchend, rasend, auf, stieß den Kopf gegen die Wand mit dem regelmäßigen Schlage seiner Glocken, als wäre er fest entschlossen, ihn zu zerschmettern. Endlich sank er ganz erschöpft zum zweitenmal nieder. Kroch auf den Knien aus der Zelle, duckte sich in der Stellung des Erstaunens vor der Tür. So lag er länger als eine Stunde ohne Bewegung, die Augen auf die einsame Zelle gerichtet, düsterer und nachsinnender als eine Mutter zwischen einer leeren Wiege und einem gefüllten Sarge. Er sprach kein Wort; nur in Zwischenräumen bewegte ein lautes Schluchzen heftig seinen Körper; doch dies war ein Schluchzen ohne Tränen, wie das Wetterleuchten im Sommer ohne Donner.
    Wie es schien, dachte er damals an den Archidiakonus, als er im verzweifelten Nachsinnen überlegte, wer wohl der unerwartete Entführer der Zigeunerin sein könne. Er erinnerte sich. Dom Claude allein besitze den Schlüssel der Treppe, die zur Zelle führte; er gedachte der nächtlichen Angriffe des Archidiakonus auf das junge Mädchen, wie er bei dem einen geholfen, aber den andern verhindert hatte. Tausend
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