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Der Glanz der Welt

Der Glanz der Welt

Titel: Der Glanz der Welt
Autoren: Michael Amon
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einen neuen Tatort aufbewahrt oder gesammelt. Oderwas auch immer. Jetzt hieß es kühlen Kopf bewahren, keine Hektik. Die Frage war: Hatte der Mörder schon wieder getötet, oder bereitete er gerade eine neue Tat vor? Vielleicht lagerte er hier nur seine Ausstattungsgegenstände. War er soeben dabei, sein neuestes Opfer zu töten? Würde er dann kommen, um den Tatort entsprechend herzurichten? Der Mörder konnte unmöglich mit der Leiche unter dem Arm und dem Stativ samt aufgesetztem Scheinwerfer auf den Schultern durch die Innenstadt spazieren. Erstens zu anstrengend und zweitens zu auffällig. Pirchmoser fragte sich ohnedies die ganz Zeit schon, wie die Taten abgelaufen waren. Es sprach alles dagegen, dass die Opfer vor Ort umgebracht worden waren. Das sagte auch die Pathologie. Die Opfer waren zuerst ermordet und dann in Szene gesetzt worden. Nur Bein passte wie gehabt nicht ins Schema. Der lebte noch, als er vom Dom gestoßen wurde. Beim letzten Mord, dem mit dem Schwert, war am Fundort noch Blut geflossen. Bei dieser Tötungsart war das unvermeidlich, während Gift natürlich meist völlig unblutig tötete. Aber auch ein gut gezielter Messerstich ins Herz führte kaum zu großen Blutlachen, insbesondere wenn direkt das Herz getroffen und der Herzmuskel glatt durchtrennt wurde, ohne große Blutgefäße zu verletzen. Die vermeintlichen Tatorte waren eigentlich nur die Fundorte der Opfer.
    „Scheiße“, dachte Pirchmoser, „hättest du bloß nicht Licht gemacht.“ Aber er hatte Glück, das Licht schaltete sich bereits wieder ab. Hoffentlich hatte der eventuell sich gerade in der Nähe befindliche Täter nichts bemerkt. Pirchmoser beschloss, im Hausflur zu warten. Er setzte sich ganz rechts auf den Treppenaufgang, lehnte sich an die Mauer, zog den Mantelkragen hoch und legte sich den Fußabstreifer aus Filz unter, damit ihm nicht so schnell vom Boden her kalt wurde. So lehnte erda, seine Augen waren halb geschlossen. Er wartete. Das war kein Tatort, aber er vermeinte trotzdem, irgendetwas zu spüren. Es lag etwas in der Luft. Manche nannten das Intuition. Dämonen, das gefiel Pirchmoser besser. In den Menschen war etwas Unheimliches, insbesondere dort, wo es um ihre Heimlichkeiten ging.
    Er konnte nicht sagen, wie lange er so dasaß. Immer wieder sagte eine Stimme in ihm: „Geh endlich, das wird nichts, du mit deinen Dämonen. Verlass dich lieber auf Akten und Fakten.“ Aber Pirchmoser harrte aus. Gegen jede Vernunft.
    Plötzlich zuckte er zusammen. Schritte. Er hörte diese Schritte, weil jemand auf das quietschende Blechgitter vor dem Eingang gestiegen war, das als Fußabstreifer diente. Das Eingangstor knarrte, als es leise weiter geöffnet wurde. Pirchmoser machte sich auf den Stufen möglichst klein. Das Tor war ganz offen, von draußen drang ein wenig Licht herein. Hoffentlich sah man ihn nicht. Er konnte die Umrisse einer Gestalt erkennen. Sie bückte sich, schien den Kopf zu schütteln, umfasste mit einer Hand das Stativ, hob so den darauf montierten Scheinwerfer vom Boden auf und zog die ganze Gerätschaft hinaus auf den Gehsteig. Pirchmoser hielt den Atem an und verharrte in seiner niedergekauerten Haltung. Die Gestalt bückte sich erneut, fasste das Stativ in der Mitte an, hob es erneut auf und schulterte es mitsamt dem Scheinwerfer. Die Gestalt setzte sich in Bewegung. Pirchmoser stand leise auf, schlich zum Tor, das noch immer offen stand, und trat vorsichtig ins Freie, ohne den blechernen Fußabstreifer zu berühren. Die Gestalt ging Richtung Stephansplatz, hielt sich dabei aber ganz eng an die Hauswände und Auslagenscheiben. Pirchmoser beschleunigte seine Schritte, näherte sich unhörbar der Person, die bemüht unauffällig durch die Nacht schlich. Erstraffte seine Gestalt, und als er in Griffnähe war, umfasste er die freie Schulter der Person, die vor ihm ging, und sagte laut: „Kriminalpolizei, Pirchmoser, bleiben Sie bitte stehen. Sie sind vorläufig festgenommen.“ Die Gestalt vor ihm erstarrte, ließ Stativ und Scheinwerfer von der Schulter rutschen, in der leisen Nacht klang der Aufprall auf dem Gehsteig wie ein Böller, das Glas des Scheinwerfers zerbrach. Die Gestalt wollte weglaufen, aber Pirchmosers Griff verstärkte sich, und er erfasste nun auch die andere Schulter mit fester Hand. Er hatte die Situation im besten Wortsinn im Griff.
    Pirchmoser drehte die Gestalt mit deutlichem Druck auf die Schultern zu sich herum. Kappe tief ins Gesicht gezogen, von unten ein Schal über den
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