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Der gestohlene Abend

Der gestohlene Abend

Titel: Der gestohlene Abend
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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angekreuzt haben, kann ich Sie nicht einschreiben.«
    »Aber warum?«, fragte ich.
    »Ihr Land bezahlt dafür, dass Sie hier ein Jahr studieren dürfen. Im Gegenzug räumen wir Ihnen einige Privilegien ein. So müssen Sie zum Beispiel keine Aufnahmeprüfungen machen, die jedem regulären Studenten abverlangt werden. Sie können Ihre Kurse weitgehend frei wählen, genießen also, wenn Sie so wollen, eine gewisse Narrenfreiheit. Aber Kurse ab einem gewissen Niveau kommen für Sie nicht infrage, da Sie die Zulassungsbedingungen nicht erfüllen. Miss Candall-Carruthers akzeptiert Studenten nur nach persönlicher Anmeldung.«
    Narrenfreiheit? Das war allerdings das Letzte, was ich mir von einer amerikanischen Top-Universität erhofft hatte. Den Kelch universitärer Narrenfreiheit hatte ich in den fünf Semestern meines bisherigen Studiums in Berlin bis zur Neige geleert. Deshalb hatte ich ja alle Hebel in Bewegung gesetzt, wieder in die USA zu kommen. Billings mochte recht damit haben, dass mein Profil den hiesigen Anforderungen nicht ganz entsprach. Aber Narrenfreiheit? Ich wollte endlich etwas lernen. Allerdings nicht in Anfängerkursen.
    »Hier haben wir zum Beispiel etwas, das für Sie infrage käme«, nutzte Mr. Billings meine vergebliche Suche nach einer schlagkräftigen Erwiderung. »European Film 101. Eine schöne Überblicksveranstaltung. Da wären Sie auch für den Kurs eine Bereicherung durch Ihren kulturellen Hintergrund. Miss Goldenson ist übrigens Österreicherin.«
    Ich las die Beschreibung, was meinen Verdruss nur noch steigerte: »Filme von Dryer, Pabst, Lang, Eisenstein u. a. sollen gemeinsam angeschaut und mithilfe klassischer und moderner Filmtheorien analysiert werden. Leistungsanforderung: kurze Essays und Schreiben von Filmkritiken sowie eine zweistündige Abschlussklausur.«
    4 credits.
    »Das ist ein Einführungsseminar, Mr. Billings«, sagte ich. »Ein Anfängerkurs. Außerdem möchte ich Literatur studieren und nicht Film.«
    Weiter kam ich nicht, denn das Telefon klingelte. Es wurmte mich, wie dieser angebliche Student counselor mich behandelte. Der Mann verhielt sich wie ein Autoverkäufer. Je mehr er miesmachte, was ich zu bieten hatte, desto besser für sein Geschäft. Ich interessierte ihn gar nicht. In das methodisch gegliederte Curriculum einer amerikanischen Universität, die einiges auf sich hielt, war ich schwer einzuordnen und ihm daher wohl vor allem lästig.
    Hatte ich überhaupt etwas zu bieten? Die Tatsache, dass ich immerhin ein akademisches Stipendium bekommen hatte, beeindruckte ihn in keiner Weise. Meine Studiennachweise aus Berlin galten hier nichts. Damit blieb nur noch ein Argument, das dagegen sprach, mich in Einführungskurse mit Studienanfängern abzuschieben: 650. Diese Zahl stand schwarz auf weiß auf dem kleinen Papierstreifen, den der TOEFL-Test in meinem Fall als Ergebnis ausgespuckt hatte. 650! Das war die Maximalpunktzahl. Englisch konnte ich nun mal, dank eines einige Jahre zurückliegenden Aufenthalts in West Virginia, wo mein Vater als Ingenieur gearbeitet und wohin er die ganze Familie mitgenommen hatte. In meinen Unterlagen auf Billings' Schreibtisch lag unter anderem mein amerikanisches Abitur. Mit Sprachdefiziten konnte er mir also nicht kommen. Aber viel half das nicht.
    »Wie wäre es mit Englisch 103?«, fragte er, nachdem er aufgelegt hatte. »Ein Grundkurs über das Elisabethanische Drama. Ein sehr beliebter Kurs.«
    Ich nahm all meinen Mut zusammen und sagte: »Könnte ich vielleicht einen Termin bei Miss Candall-Carruthers bekommen? Wenn ich ihr meine Situation erkläre, ergibt sich vielleicht doch eine Möglichkeit.«
    Billings schüttelte den Kopf und schob mir meinen Kurskatalog über den Tisch zurück.
    »Es gibt hier Regeln, Mr. Theiss. In der englischen Abteilung können Sie nur Kurse der Kennung 100 belegen. Die einzige Abteilung, wo Sie unter Umständen an 200er-Kursen teilnehmen können, ist die Germanistik. 300er-Kurse kommen für Sie grundsätzlich nicht infrage und das INAT schon gar nicht. Vielleicht erkundigen Sie sich in der deutschen Abteilung einmal nach den Gepflogenheiten hier. Sprechen Sie mit Ruth Angerston oder Gabriele Fuchs. Überlegen Sie es sich übers Wochenende in Ruhe. Ich bin am Montag wieder für Sie da.«

Kapitel 5
    Einen der Namen, die Billings genannt hatte, kannte ich.
    Ich hatte im Frühjahr zwei Artikel von Ruth Angerston gelesen. Ihre Aufsätze über Kleist waren erfrischend geschrieben und sogar ein wenig
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