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Der Gesellschaftsvertrag

Der Gesellschaftsvertrag

Titel: Der Gesellschaftsvertrag
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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andere Sprache, und das vorgeblich überirdische Reich sah man sich in kurzer Zeit unter einem sichtbaren Oberhaupte in das despotischste Reich dieser Welt verwandeln.
    Da es jedoch noch immer ein Staatsoberhaupt und bürgerliche Gesetze gab, so ging aus dieser zwiefachen Gewalt ein unaufhörlicher Konflikt hervor, der in den christlichen Staaten jede gesunde Staatsverfassung unmöglich machte; und nie hat man letzten Endes darüber klar werden können, ob man dem Herrn oder dem Priester zu gehorchen verpflichtet war.
    Mehrere Völker sowohl in Europa wie in den angrenzenden Ländern bemühten sich allerdings, das alte System aufrechtzuerhalten oder wieder einzuführen, allein ohne Erfolg; der Geist des Christentums trug überall den Sieg davon. Der geheiligte Kultus bewahrte oder gewann doch wenigstens seine Unabhängigkeit vom Staatsoberhaupte immer bald wieder und stand nie in der so notwendigen Verbindung mit dem Staatskörper. Mohammed hatte hierin einen sehr scharfen Blick, er gab seinem politischen System einen festen Zusammenhang, und solange sich die Form seiner Regierung unter seinen Nachfolgern, den Kalifen, erhielt, war diese Regierung eine einheitliche und in dieser Beziehung gute. Nachdem aber die Araber üppig, gelehrt, gebildet, weichlich und feige geworden waren, wurden sie von Barbaren unterjocht, und nun ging die Trennung der beiden Gewalten von neuem vor sich. Obgleich sie bei den Mohammedanern weniger zutage tritt als bei den Christen, so ist sie trotzdem auch bei ihnen vorhanden, namentlich in der Sekte des Ali; es gibt Staaten, wie Persien, wo sie sich unaufhörlich fühlbar macht.
    In Europa machten sich die Könige von England zu Oberhäuptern der Kirche, und die Zaren folgten ihrem Beispiel; aber durch Annahme dieses Titels traten sie keineswegs als Herren, sondern eher als Diener der Kirche auf; sie erlangten nicht das Recht, Änderungen in ihr vorzunehmen, sondern nur die Gewalt, sie zu schützen; in kirchlichen Angelegenheiten sind sie nicht die Gesetzgeber, sondern nur Fürsten. Überall, wo die Geistlichkeit einen festen Körper [Fußnote: Man muß wohl beachten, daß die Geistlichkeit nicht sowohl durch förmliche Versammlungen, wie sie in Frankreich üblich sind, in einen Körper vereinigt wird, als vielmehr durch die Gemeinschaft der Kirche. Die Gemeinschaft und die Ausstoßung aus derselben sind der Gesellschaftsvertrag der Geistlichkeit, ein Vertrag, vermittels dessen sie stets die Beherrscherin der Könige und Völker sein wird. Alle Geistlichen, die derselben Gemeinschaft angehören, sind Mitbürger, auch wenn sie an den entgegengesetztesten Enden der Welt lebten. Dieses Mittel ist ein Meisterstück der Politik. Unter den heidnischen Priestern gab es nichts Ähnliches; auch bildeten sie nie eine geistliche Körperschaft.] bildet, ist sie Herrin und Gesetzgeberin auf ihrem Gebiete. Es gibt folglich in England und Rußland wie sonst überall zwei Gewalten und zwei Staatsoberhäupter.
    Unter allen christlichen Schriftstellern ist der Philosoph Hobbes der einzige, der sowohl das Übel wie das Heilmittel richtig erkannte und sich den Vorschlag zu machen getraute, die beiden Köpfe des Adlers wieder zu vereinigen und alles zur politischen Einheit zurückzuführen, ohne die es dem Staate wie der Regierung immer an einer guten Verfassung fehlen wird. Er hat aber einsehen müssen, daß sich der herrschsüchtige Geist des Christentums mit seinem Systeme nicht in Einklang bringen ließ und der Vorteil des Priesters stets den des Staates überwiegen würde. Nicht sowohl das Abscheuliche und Verkehrte in Hobbes' Politik, sondern das Gute und Wahre in ihr hat sie verhaßt gemacht. [Fußnote: Man sehe unter anderem in einem Briefe von Grotius an seinen Bruder vom 11. April 1643, was jener Gelehrte in dem Werke »De cive« billigt und was er tadelt. Zur Nachsicht geneigt, scheint er allerdings dem Verfasser das Gute um des Bösen willen zu verzeihen, aber so gnädig ist nicht jedermann.]
    Ich glaube, daß man bei einer Entwicklung der geschichtlichen Tatsachen von diesem Gesichtspunkte aus die entgegengesetzten Ansichten Bayles und Warburtons leicht zu widerlegen imstande wäre. Jener behauptet, daß dem Staatskörper keine Religion vorteilhaft sei, während dieser in dem Christentume die festeste Stütze desselben erblickt. Gegen Bayle könnte man den Beweis führen, daß noch nie ein Staat gegründet wurde, dem die Religion nicht als Grundlage diente, und gegen Warburton, daß die christliche
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