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Der Gesellschaftsvertrag

Der Gesellschaftsvertrag

Titel: Der Gesellschaftsvertrag
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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uns, daß ein Volk von wahren Christen die vollkommenste Gesellschaft sein würde, die sich denken ließe. Bei dieser Annahme sehe ich nur eine große Schwierigkeit: nach meinem Erachten würde eine Gesellschaft von wahren Christen keine Gesellschaft von Menschen mehr sein.
    Ich behaupte sogar, daß eine derartige Gesellschaft trotz aller ihrer Vollkommenheit weder die stärkste noch die dauerhafteste sein würde. Infolge ihrer Vollkommenheit würde ihr das innere Band fehlen; ihre Vollkommenheit selbst würde ihren Untergang herbeiführen.
    Jeder würde seine Pflicht erfüllen; das Volk würde den Gesetzen gehorchen, die Oberhäupter würden gerecht und maßvoll, die Beamten sittenrein und unbestechlich sein. Die Soldaten würden den Tod verachten; es gäbe weder Eitelkeit noch Luxus. Das ist alles höchst vortrefflich, aber sehen wir uns weiter um.
    Das Christentum ist eine durchaus geistige Religion, die sich einzig und allein mit himmlischen Dingen beschäftigt; die Heimat des Christen ist nicht von dieser Welt. Er erfüllt seine Pflicht, das ist wahr, aber er tut es mit einer tiefen Gleichgültigkeit gegen den guten oder bösen Ausgang seiner Bestrebungen. Sobald er sich keinen Vorwurf zu machen braucht, so kümmert es ihn wenig, ob hienieden alles gut oder übel geht. Befindet sich der Staat in blühendem Zustande, so hat er kaum den Mut, die allgemeine Glückseligkeit zu genießen; er ist besorgt, auf den Ruhm seines Landes stolz zu werden; geht der Staat zugrunde, so segnet er die Hand Gottes, die schwer auf seinem Volke lastet.
    Damit eine solche Gesellschaft in Frieden lebte und ihre Eintracht sich erhielte, müßten sämtliche Bürger ohne Ausnahme gleichgute Christen sein; fände sich indessen unglücklicherweise unter ihnen auch nur ein einziger Ehrgeiziger, ein einziger Heuchler, etwa ein Catilina oder ein Cromwell, so täte er sich gewiß leicht mit seinen frommen Landsleuten. Die christliche Liebe gestattet nicht, sofort Böses von seinem Nächsten zu denken. Sobald er durch irgendeine List die Kunst entdeckt hat, sie hinter das Licht zu führen und einen Teil der Staatsgewalt an sich zu reißen, so hat er seine Würde gesetzmäßig erlangt. Gott will, daß man ihn achte. Nun ist er eine Macht, und Gott will, daß man ihm gehorche. Mißbraucht sie der Träger einer solchen Gewalt, so ist er die Geißel, mit der Gott seine Kinder züchtigt. Man würde sich ein Gewissen daraus machen, den Usurpator zu verjagen; man müßte die öffentliche Ruhe stören, Gewalt anwenden und Blut vergießen, was mit der christlichen Sanftmut schlecht vereinbar ist. Und von dem allem abgesehen: was liegt auch wohl daran, ob man in diesem Jammertale ein freier Mann oder ein Sklave ist? Die Hauptsache ist, ins Himmelreich zu kommen, und dazu ist Entsagung nur ein Mittel mehr.
    Entsteht irgendein auswärtiger Krieg, so ziehen die Staatsbürger furchtlos in den Kampf; keiner denkt an Flucht; sie tun ihre Schuldigkeit, aber ohne Leidenschaft für den Sieg; sie verstehen besser zu sterben als zu siegen. Was kommt darauf an, ob sie siegen oder besiegt werden? Weiß die Vorsehung nicht besser als sie, was ihnen not tut? Stelle man sich nun vor, mit welchem Erfolge sich ein stolzer ungestümer und leidenschaftlicher Feind ihren Stoizismus zu Nutzen machen kann! Stellt ihnen jene mutigen Völker gegenüber, die glühende Ruhmbegier und Vaterlandsliebe verzehrt, denkt euch eure christliche Republik im feindlichen Zusammentreffen mit Sparta oder Rom, und die frommen Christen sind geschlagen, vernichtet und zerstreut, ehe sie nur Zeit hätten, zur Besinnung zu kommen, oder sie verdanken ihre Rettung nur der Verachtung, die sie ihrem Feind einflößen. Meines Bedünkens legten die Soldaten des Fabius einen schönen Eid ab; sie schwuren nicht, zu sterben oder zu siegen, sondern als Sieger heimzukehren, und hielten ihren Schwur. Nie hätten Christen einen solchen Eid abgelegt; sie hätten gefürchtet, Gott zu versuchen.
    Ich irre mich indessen, wenn ich von einer christlichen Republik rede, jedes dieser beiden Worte schließt das andere aus. Das Christentum predigt nur Knechtschaft und Unterwürfigkeit. Sein Geist ist der Tyrannei zu günstig, als daß sie nicht immer suchen sollte, daraus Gewinn zu ziehen. Die aufrichtigen Christen sind dazu geschaffen, Sklaven zu sein, sie wissen es auch und beunruhigen sich darüber kaum, da dieses kurze Erdenleben einen zu geringen Wert in ihren Augen hat.
    Die christlichen Soldaten sollen
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