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Der Gesellschaftsvertrag

Der Gesellschaftsvertrag

Titel: Der Gesellschaftsvertrag
Autoren: Jean Jacques Rousseau
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Sittenlehre einer kräftigen Staatsverfassung im Grunde genommen mehr nachteilig als nützlich ist. Um mich vollends verständlich zu machen, ist es nötig, daß ich die allzu unbestimmten Begriffe von Religion, soweit sie meinen Gegenstand berühren, etwas genauer definiere.
    In ihrer Beziehung zur Gesellschaft betrachtet, die entweder eine allgemeine oder eine private ist, läßt sich auch die Religion in zwei Gattungen teilen, und zwar in die Religion des Menschen und in die des Staatsbürgers. Die erste, die sich von Tempeln, Altären und kirchlichen Gebräuchen frei erhält und sich einzig und allein auf die innere Verehrung des höchsten Gottes und die ewigen Pflichten der Moral beschränkt, ist die reine, einfache Religion des Evangeliums, der wahre Gottesglaube, und könnte das göttliche Naturrecht genannt werden. Die andere, die auf ein einziges Land beschränkt ist, gibt diesem seine besonderen Götter und Schutzpatrone. Sie hat ihre Glaubenssätze, ihre Gebräuche und ihren gesetzlich vorgeschriebenen äußeren Gottesdienst. Mit Ausnahme des Volkes allein, das sich zu ihr bekennt, gilt ihr jedes andere für ungläubig, fremd und barbarisch; sie dehnt die Pflichten und Rechte des Menschen nur so weit aus, wie ihre Altäre reichen. So waren sämtliche Religionen der ältesten Völker, die man auch das staatsbürgerliche oder das positive göttliche Recht nennen kann.
    Dazu tritt eine dritte, noch seltsamere Religionsweise, die dadurch, daß sie den Menschen zwei Gesetzgebungen, zwei Oberhäupter und zwei Vaterländer gibt, sie widersprechenden Gesetzen unterwirft und es ihnen unmöglich macht, gleichzeitig fromme und gute Staatsbürger zu sein. Zu dieser Klasse gehört die Religion der Lamas und der Japanesen sowie der Katholizismus. Man kann letzteren Priesterreligion nennen. Aus ihm geht ein gemischtes, jeder Gesellschaft widerstreitendes Recht hervor, das sich mit keinem bestimmten Namen bezeichnen läßt.
    Vom politischen Standpunkt aus betrachtet haben alle diese drei Religionsarten ihre Fehler. Die dritte ist so offenbar schlecht, daß ein besonderer Beweis davon reine Zeitverschwendung wäre. Alles, was die gesellschaftliche Einheit zerreißt, ist wertlos; alle Einrichtungen, die den Menschen mit sich selbst in Widerspruch setzen, taugen nichts.
    Die zweite hat das Gute, daß sie neben der Gottesverehrung die Liebe zu den Gesetzen pflegt; indem sie das Vaterland zum Gegenstande der Verehrung macht, gibt sie den Bürgern die Lehre, daß jeder dem Vaterlande geleistete Dienst zugleich ein dem Schutzgotte dargebrachter ist. Es ist eine Art Theokratie, in der man keinen andern Hohenpriester als den Fürsten und keine anderen Priester als die Obrigkeiten haben darf. Der Tod für das Vaterland ist nun ein Märtyrertod, die Gesetzesübertretung eine Entheiligung, und die öffentliche Verwünschung eines Schuldigen die Herabrufung des Ingrimmes der Götter auf sein Haupt: sacer esto! (Er sei verflucht!)
    Ihr Schlechtes liegt jedoch darin, daß sie auf Irrtum und Lüge gegründet ist und folglich die Menschen irreleitet, zum Aberglauben verführt und die wahre Gottesverehrung in ein nichtiges Zeremonienwesen verdirbt. Schlecht ist sie ferner, wenn sie ausschließend und tyrannisch wird und das Volk in dem Grade blutdürstig und unduldsam macht, daß es nur noch Mord und Totschlag atmet und durch Ausrottung aller, die nicht an seine Götter glauben, ein heiliges Werk zu tun glaubt. Dadurch wird ein solches Volk in einen natürlichen Kriegszustand mit allen anderen versetzt, der seiner eigenen Sicherheit höchst gefährlich ist.
    Mithin bleibt nur noch die Religion des Menschen oder das Christentum übrig, nicht das jetzige, sondern das des Evangeliums, das davon wesentlich verschieden ist. Durch diese heilige, erhabene, wahre Religion erkennen sich die Menschen, die alle Kinder eines und desselben Gottes sind, als Brüder an, und das Band, das sie vereint, löst sich nicht einmal im Tode.
    Da diese Religion jedoch mit dem politischen Körper in gar keiner Beziehung steht, so läßt sie den Gesetzen lediglich die Kraft, die sie aus sich selbst ziehen, ohne ihnen irgendeine neue zu verleihen, und dadurch bleibt eines der wichtigsten Bande jeder besonderen Gesellschaftsform ohne Wirkung. Noch mehr: sie fesselt die Herzen der Bürger nicht an den Staat, sondern wendet sie vielmehr von ihm wie von allen anderen irdischen Dingen ab. Ich kenne nichts, was dem gesellschaftlichen Geiste mehr widerstreitet.
    Man sagt
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