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Der geschmuggelte Henry

Der geschmuggelte Henry

Titel: Der geschmuggelte Henry
Autoren: Paul Gallico
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hat es für einen Sinn, wenn du seinen Vater ausfindig machst und er dann herüberkommt und den armen kleinen Kerl hier verhungert vorfindet? Eine von uns muß also hierbleiben.»
    In dieser Feststellung steckte so viel Logik, daß es Mrs. Harris einen Augenblick die Sprache verschlug, und sie blickte betrübt in ihre Teetasse und sagte dann nur: «Ich möchte, daß du mit mir nach Amerika kommst, Vi.»
    Jetzt war es an Mrs. Butterfield, ihre Freundin erstaunt anzublicken. Aufrichtigkeit weckte in ihr die gleiche Aufrichtigkeit. Mit all den Ausflüchten war es jetzt vorbei, und sie antwortete: «Ich will nicht nach Amerika fahren — ich fürchte mich davor.»
    «Ich auch», sagte Mrs. Harris.
    Mrs. Butterfields Erstaunen verwandelte sich in Verblüffung. «Was», rief sie, «du, Ada Harris, fürchtest dich? Da kenne ich dich nun schon fünfunddreißig Jahre, und nie hast du dich im Leben vor etwas gefürchtet!»
    «Aber jetzt fürchte ich mich», sagte Mrs. Harris. «Es ist ein großer Schritt. Es ist ein fremdes Land, es liegt weit weg. Wer kümmert sich um mich, wenn mir etwas passiert? Darum möchte ich, daß du mitkommst. Man kann schließlich nie wissen...»
    Dieser plötzliche Tausch der gewohnten Rollen der beiden Frauen hätte wie eine Ironie anmuten können: Mrs. Harris, die abenteuerlustige Optimistin, wurde plötzlich zu einer Art schüchterner, pessimistischer Butterfield. Aber in Wirklichkeit war in ihrer Bemerkung keinerlei Ironie. Es war ihr nun plötzlich klargeworden, wie gewaltig das Unternehmen war, in das sie sich leichten Herzens und mit ihrer üblichen Freude am Abenteuer gestürzt hatte. New York war nicht nur weit weg, es war auch ganz anders als alles, was sie je kennengelernt hatte. Gewiß, Paris war auch sehr fremd gewesen, aber wenn man auf eine Landkarte sah, lag es sozusagen auf der anderen Straßenseite. In Amerika sprach man zwar auch englisch, und dennoch war es in einem anderen Sinn mehr Ausland als Frankreich oder vielleicht sogar China. Sie war im Begriff, sich von dem wunderbar sicheren und behaglichen London zu lösen, in dem sie ihr Leben lang geborgen gewesen war und in dessen Straßen, Rhythmus, Lärm und mannigfaltigen Stimmungen sie blind ihren Weg fand. Und sie war nicht mehr jung. Sie wußte, daß viele britische Frauen, die Amerikaner geheiratet hatten, schnell wieder zurückgekommen waren, weil sie sich dem amerikanischen Leben nicht anpassen konnten. Sie war einundsechzig. Einundsechzig, wenn auch noch voller Energie und Lebenslust, aber man wußte ja nie. Wenn sie zum Beispiel krank wurde? Wer würde in einem fremden Land für das notwendige Bindeglied zwischen ihr und dem großen London sorgen? Ja, in diesem Augenblick hatte sie wirklich Angst, und das spiegelte sich in ihren Augen. Violet Butterfield sah es ihr an.
    «Ach, Liebe», sagte die dicke Frau, und ihr Doppelkinn begann zu zittern. «Ist es dein Ernst, Ada? Brauchst du mich wirklich?»
    Mrs. Harris blickte ihre Freundin an und wußte, daß sie wirklich die große, schwere hilflose Frau brauchte, an die man sich dennoch, wenn’s einem schwer ums Herz war, anlehnen konnte. «Ja, Liebe», erwiderte Mrs. Harris, «ich brauche dich.»
    «Darm komme ich mit», sagte Mrs. Butterfield und begann zu weinen. Auch Mrs. Harris kamen die Tränen, und schon lagen sich die beiden Frauen in den Armen, weinten die nächsten Minuten zusammen und fühlten sich dabei sehr wohl. -
    Die Würfel aber waren gefallen und die Reise eine beschlossene Sache.
    Jeder, der wußte, wieviel Mrs. Harris und Mrs. Butterfield ihren Kunden wert waren, wäre nicht überrascht gewesen, wenn er nach Belgravia gekommen wäre und in diesem vornehmen Viertel an vielen Häusern Kreppschleifen gesehen hätte, nachdem die beiden Witwen ihre Kunden davon in Kenntnis gesetzt hatten, daß sie binnen einer Woche in die Vereinigten Staaten reisen würden und mindestens drei Monate, ja vielleicht noch länger, nicht verfügbar seien.
    Aber die menschliche Seele ebenso wie der menschliche Körper sind so zähe, daß, wenn die Nachricht, daß Mrs. Harris und Mrs. Butterfield in das Land reisten, das manche noch als Kolonie bezeichneten, auch große Aufregung hervorrief, dieser Schlag mehr oder weniger mit Fassung hingenommen wurde.
    Hätten die beiden Frauen gesagt, sie würden für ein, zwei Tage oder eine Woche abwesend sein, hätte das einen solchen Aufruhr in der Gegend bewirkt, daß die Häuser, Straßen und Plätze gebebt hätten — aber drei Monate
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